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DOI: 10.1055/s-0034-1397798
Statt Sectio oder Embryotomie – Die Einführung der Künstlichen Frühgeburt in Deutschland
Publication History
Publication Date:
26 June 2015 (online)

Angesichts der noch im 19. Jahrhundert lange Zeit hohen Müttersterblichkeit beim Kaiserschnitt wurde als Alternative die vorzeitige Einleitung der Geburt auch in Deutschland diskutiert und erprobt. In seiner Habilitationsschrift zu dieser so genannten künstlichen Frühgeburt definierte 1896 Otto Sarwey (1864–1933), später Ordinarius in Rostock, sie in Abgrenzung zu kriminellem Abort und Accouchement forcé als „diejenige geburtshilfliche Operation, welche in der kunstgemässen Unterbrechung der Schwangerschaft von der 33. Woche an besteht, und dazu bestimmt ist, die Mutter und die Frucht, in Ausnahmefällen nur die eine von beiden, vor ernsten Gefahren zu bewahren, welche ihnen im weiteren Verlaufe der Gravidität oder am Ende derselben bevorstehen würden.“ [1] Damals feierten Ärzte wie der Bonner Geburtshilfe-Professor Heinrich Fritsch diese Maßnahme noch immer enthusiastisch: „Es giebt kaum ein ärztliches Eingreifen, dass dem Laien so die Macht der ärztlichen Kunst beweist, wie die künstliche Frühgeburt.“ [2] Da die richtige Berechnung des empfohlenen Termins sehr wichtig, damals aber auch schwierig war, musste nach einer schweren Geburt das Paar für die nächste Schwangerschaft vorausschauend eingebunden werden. Dazu wurde den Kandidatinnen für eine künstliche Frühgeburt empfohlen, ein Tagebuch über die Monatsblutung zu führen, ihren Männern aber, dasselbe für die Daten des ehelichen Verkehrs zu tun. Damit blieb der Anwendungsbereich dieser Methode immer vergleichsweise eng begrenzt, für geburtshilfliche Komplikationen im näheren zeitlichen Umfeld der Geburt, also Notfälle, war sie von Natur aus nicht mehr anwendbar.
Von diesem Endpunkt ihrer Anwendung um 1900 aus sei ein Blick zurück auf die Anfänge der künstlichen Frühgeburt in Deutschland unternommen. In den verschiedenen jüngeren medizinhistorischen Arbeiten zur „schweren Geburt“[1] wird die künstliche Frühgeburt als ein „Verlierer“ der geburtshilflichen Entwicklung entweder gar nicht oder nur im Vergleich mit anderen Methoden behandelt. Eine medizinhistorische Monographie, wie sie für die „sectio in mortua“, den Kaiserschnitt an der frisch Verstorbenen zur Rettung des Kindes, als ein anderes nicht mehr praktiziertes Verfahren vorliegt, ist zur künstlichen Frühgeburt bisher nicht verfasst worden. Bücher zur Geschichte der Geburtshilfe aus den Zeiten, als diese Methode noch praktiziert wurde, behandelten sie hingegen auf mehreren Seiten detailliert.
Die Anfänge fallen in die Zeit um 1800, als deutsche Anhänger der britischen und der französischen Schule einander gegenüberstanden, und betreffen selbst auch den Gegensatz zwischen dem britischen Vorgehen, das eher am natürlichen Verlauf orientiert ist, und dem operationsfreudigeren französischen Ansatz. So empfahl der schottische Geburtshelfer John Burns (1774–1850), dessen „Grundsätze der Geburtshilfe“ („The Principles of Midwifery“) der spätere Bonner Geburtshilfeprofessor Herrmann Friedrich Kilian für Deutschland bearbeitet 1827 herausgab, selbst bei Eileiterschwangerschaften eher der Kraft der Natur als dem „Messer des Wundarztes“ zu vertrauen [3]. In der Tat waren vor der Ära von Antisepsis, später Asepsis und Narkose, aber auch adäquater Operationstechniken, die Aussichten für die Schwangere bei abdominalen Eingriffen schlecht.
Entsprechend der zwischen britischer und französischer Schule unterschiedlichen Entscheidung für weniger oder stärker eingreifendes Vorgehen verlief oft und lange die Scheidelinie in der Frage, welchen Stellenwert das kindliche Leben hat. Die stärker den natürlichen Verlauf berücksichtigende britische Schule führte bei ihren deutschen Anhängern zum langen Abwarten mit schließlich – bei geburtsunmöglicher Konstellation – Embryotomie oder Perforation, während die eingriffsfreudigere französische Schule eher zur Schnittentbindung und damit auch möglicher Rettung des Kindes tendierte.
Einer der prominentesten Vertreter der Lehre von der natürlichen Geburt war der vor allem in Hamburg privat praktizierende Justus Heinrich Wigand (1769–1817), von der nach ihm (oder auch nach Wigand-Martin-Winckel) benannten Wendung bekannt. Er plädierte entsprechend für Enthirnung selbst beim lebenden Kind und entwickelte eine neue Perforationsmethode. Dagegen formulierte Dietrich Wilhelm Heinrich Busch (1788–1858), der aus der Kriegschirurgie in französischen Diensten stammte und vor allem zur operativen Geburtshilfe beitrug, als Ordinarius für Geburtshilfe in Marburg und später Berlin, dass man beim lebenden oder zumindest noch eine Überlebenschance habenden Kind nicht perforieren dürfe, weil dies „durchaus verwerflich“ sei [4]. Ähnlich schrieb der Direktor des Geburtshülflichen Instituts der Universität Bonn, Professor Georg Wilhelm Stein d. J., 1823 den Briten die Bevorzugung der zerstückelnden Operationen vor dem Kaiserschnitt zu: „Bekanntlich ist es Grundsatz der Engländer, nur da zu operiren, wo keine Perforation mehr helfen kann, weil sie nämlich die Kaisergeburt, z.Th. eben nach ihren Erfahrungen, für durchaus tödtlich halten.“ [5]
Dieser nationale Unterschied spielte auch bei der Bewertung der künstlichen Frühgeburt und ihrer Einführung in Deutschland eine zentrale Rolle. Bereits im 16. Jahrhundert war bei einer aus medizinischen Gründen zu beendenden Schwangerschaft von Johannes Raphael Moxius für den Zeitpunkt entweder die ersten beiden Monate als Zeit vor der Lebendigkeit (also Animation oder „Beseelung“ nach aristotelischer Lehre) oder aber die letzten beiden als Zeit der Lebensfähigkeit empfohlen worden [6]. Doch die gängige Literatur gibt als Ursprung der künstlichen Frühgeburt eine Londoner Konsultation der bedeutendsten britischen Ärzte im Jahre 1756 und als Pioniere die Briten Macaulay, Kelly und Thomas Denman (1733–1815) an [1]. Gegenüber dieser britischen Billigung erfuhr die Methode in Frankreich eine scharfe Ablehnung. Der Pariser Geburtshilfe-Professor Joseph Capuron (1767–1850) nannte sie „einen Anschlag auf die göttlichen und menschlichen Gesetze“, „nicht nur unsicher und wenig mit den Grundsätzen der Kunst übereinstimmend, sondern auch noch voller Gefahren für die Mutter und das Kind“ (Übers. d. Autors) [7]. Die Academie royale de Médicine verurteilte sie 1827 als „unpassend und fast unmoralisch“ (Übers. d. Autors) [8]. In den intensiven Diskussionen der „schweren Geburt“ in der Wiener Geburtshilfe um 1800, die auch durch das katholische Verbot der direkten Tötung der sterbenden Mutter und des noch lebenden Kindes geprägt waren, spielte die künstliche Frühgeburt keine entscheidende Rolle [9].
In Deutschland erwähnte erstmals der spätere Mainzer Geburtshilfe-Professor Johann Peter Weidmann (1751–1819) in seiner Würzburger Dissertation von 1779, die sich dem Vergleich von Kaiserschnitt und Symphysotomie widmete, die für die Mutter ungefährlichere erzwungene Geburt nach dem siebten Monat kurz [1]. Zwanzig Jahre später empfahl in Heidelberg Franz Anton Mai (1742–1814) das Verfahren ausführlich, weitere fünf Jahre später leitete Weidmanns Schüler Karl Wenzel (1769–1827) bei einer Schwangeren in der 32. Woche, die zuvor nur durch Zerstückelungen entbunden worden war, die Geburt durch Blasensprengung ein – im Ergebnis zum Wohl von Mutter und Kind. Diese Methode zur Einleitung der künstlichen Frühgeburt blieb, häufig als „Eihautstich“ mit eigenem Instrumentarium, die häufigste, obwohl auch Tamponaden, Pressschwämme, Frottieren oder wechselwarme Bäder erprobt und diskutiert wurden. Wenzels lange danach vorgelegte Schrift zur Verteidigung der künstlichen Frühgeburt zeigt eine medizinethisch elaborierte Argumentation[10]. Sie geht davon aus, dass der Kaiserschnitt Gewissheit über das Leben des Kindes voraussetzt, weil ansonsten die Gefährdung der Mutter nicht zu rechtfertigen wäre: „Bestimmt man sich einmal zum Gebärmutterschnitte, so muss ein lebendes Kind der Preis für das gewagte Leben der Mutter seyn; darum kann ihn der Geburtshelfer nicht unternehmen, wenn er ungewiss über das Leben des Kindes ist.“. Die Entscheidung zu Perforation hingegen setze Gewissheit über den Tod des Kindes voraus, denn ansonsten „ist sie Grausamkeit, ist verwerflich, und, weil sie doch einmal so verübt wird, und gar vielfältig so, bezeichnet sie den Stand der Geburtshülfe, wie er aus der Ausführung erkennbar ist, nicht nur wissenschaftslos, sondern was noch weit mehr ist, inhuman.“ Da man beide Gewissheiten nur allzu oft nicht haben könne, sei die künstliche Frühgeburt besser, allerdings – gegen die britische Lehre – eben nur bei Lebensfähigkeit des Kindes. Bereits 1820 legte der gebürtige Koblenzer Franz Reisinger (1787–1855), damals außerordentlicher Professor in Landshut, eine Monographie von 350 kleingedruckten Seiten zur künstlichen Frühgeburt vor ( [Abb. 1]). Er behandelt darin auch die „Belebung und Erhaltung eines so frühzeitig geborenen Kindes“ durch verschiedene Maßnahmen, darunter auch einen selbst entwickelten Apparat ( [Abb. 2]).




Einen Einblick in die Häufigkeit und Erfolgschancen der einzelnen Methoden zur Jahrhundertmitte kann die Berliner Geburtshülfliche Klinik für den Fünf-Jahres-Zeitraum 1836 bis 1841 geben [11]. Von den sieben künstlichen Frühgeburten erfolgten zwei wegen Cholera und fünf wegen „Beckenbeschränkung rachitischer Art“, alle Mütter überlebten. Bei den beiden Cholerakranken im achten Monat starb ein Kind kurz nach der Geburt, bei den anderen fünf starben drei, u. a. durch Traumen bei der Zangenentbindung. Perforationen wurden sechs durchgeführt, dabei starb eine Mutter nach zusätzlicher Wendung auf die Füße an „völliger Erschöpfung“. Nach den zwei Kaiserschnitten an der Lebenden wegen Beckenenge starben beide Mütter „im Wochenbette“, jeweils ein Kind überlebte, ein Zwilling nicht. Der Kaiserschnitt eine Stunde nach einem Cholera-Tod ergab nur ein bereits totes Kind. Die künstliche Frühgeburt war demnach damals das für die Mutter aussichtsreichste Verfahren und gab dem Kind zumindest eine Überlebenschance in der Hälfte der Fälle.
Dr. Walter Bruchhausen, Aachen
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Literatur online unter:
http://www.medhistsam.rwth-aachen.de/Geburtshilfe.htm