Z Sex Forsch 2015; 28(1): 75-79
DOI: 10.1055/s-0034-1399129
Nachruf
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Herbert Jäger (1928–2014)

Lorenz Böllinger
,
Rüdiger Lautmann
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Publication History

Publication Date:
24 March 2015 (online)

Im Alter von fast 86 Jahren ist Herbert Jäger am 11. Dezember 2014 gestorben. Von 1972 bis 1993 war er Professor für Strafrecht und Kriminalpolitik – letzteres damals eine ganz neuartige Denomination – am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuvor studierte er in München und Hamburg, wo er 1957 promovierte und 1966 habilitierte. Dann wurde er sogleich auf die erste Strafrechtsprofessur in Gießen berufen.

Die Trauer anlässlich dieses Abschieds verbindet sich mit vielen Eindrücken und Emotionen zu den vergangenen fünf Jahrzehnten. In gewisser Weise markiert sein Tod auch das Abflauen einer Epoche gesellschaftlicher Aufklärung und Interdisziplinarität sowohl der Jurisprudenz als auch von Teilen der Sexualwissenschaft, welche er durch sein wissenschaftliches Werk und persönliches Wirken mit beeinflusste. Unter diesem Blickwinkel herausragend ist seine 1957 im Enke-Verlag erschienene Dissertationsschrift, „Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten“. In diesem, dem Wertetrend der frühen Bundesrepublik völlig entgegenstehenden Werk, entwickelte er seine richtungweisende materiell und empirisch begründete Rechtsgutstheorie, die den kriminalwissenschaftlichen Diskurs bis heute maßgeblich prägt. Seine Vorgehensweise war von doppelter Bedeutung: Sie war ganz allgemein, methodologisch, rechtsdogmatisch und didaktisch beispielhaft für die überfällige, die Scheuklappen positivistischer und vom Faschismus schwer belasteter Rechtwissenschaft überwindende Interdisziplinarität. Und sie war im Besonderen Leuchtturm für die ebenso überfällige Reform des Sexualstrafrechts und der entsprechenden Rechtspolitik, die Überwindung des menschenunwürdigen Moral- und Sittlichkeitsstrafrechts. In einem ersten Teil der Studie führte er herkömmliche rechtswissenschaftliche Lehren mit soziologischen Grundlagen zusammen. Im zweiten Teil durchforstete er mit großer Akribie die brüchigen Legitimierungen des fast schon hundertjährigen Sexualstrafrechts und konfrontierte sie ebenso nüchtern wie fundiert mit dem Stand der Nachbarwissenschaften Soziologie, Psychologie und Sexualwissenschaft. Was er damals zu Gewalt und Missbrauch, zu Inzest, Homosexualität, Sodomie, Kuppelei und Pornografie aufarbeitete und rechtsgutstheoretisch integrierte, wirkt auch aus heutiger Sicht hoch modern.

Als Mitherausgeber und Redakteur des Bandes „Sexualität und Verbrechen“ setzte Jäger seine Linie fort, indem er 1963 den repressiven Kurs des Sittlichkeitsstrafrechts im Entwurf von 1962 kritisierte. Die hohe Verbreitung der Taschenbuchausgabe (mit einer Erstauflage von fünfzigtausend Exemplaren) und die Prominenz der beitragenden Autoren (darunter z. B. Theodor W. Adorno) leitete auf dem Hintergrund seiner Dissertation die kriminalpolitische Wende der Jahre 1969/1973 ein. Sein Eintreten für eine Liberalisierung führte ihn in den Beirat der Humanistischen Union, eine wichtige publizistische Gegenspielerin zur reaktionären Kriminalpolitik konservativer Bundesregierungen. Auch wurde er Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung und war 1970 – 1972 deren Zweiter Vorsitzender. Er wirkte Mitte der 1980er-Jahre an einer Kommission mit, die das einschlägige Strafrecht kritisch durchleuchtete (Mitherausgeber des Buchs von 1987); hier teilte er die auch von Eberhard Schorsch vertretene Linie. Bis ins Jahr 2008 gehörte er dem Beirat der Zeitschrift für Sexualforschung an.

Jägers Werk ist Mitbedingung geworden nicht nur für die Große Strafrechtsreform (1954 – 1959), sondern auch für den allmählichen Prozess der Entmoralisierung der Sexualdelikte und die bis heute schwierige Entstigmatisierung der Homosexualität einerseits sowie die Anerkennung von Sexualpathologischem andererseits. Insbesondere was die Pädophilie- und Pornografie-Diskurse betrifft, verdeutlichen uns seine damaligen Erkenntnisse, in welchem Maße seit den 1990er-Jahren das Sexualstrafrecht von Rückfällen, von Regressionen in verblendetes, moralisierendes und ausgrenzendes Denken gekennzeichnet ist. Symbolisch steht dafür der erschlagende Satz des früheren Bundeskanzlers: „Wegschließen, und zwar für immer!“ Jäger hat sich immer wieder in die Debatten um das Sexualstrafrecht eingeschaltet.

Seine Dissertationsschrift und die Hinwendung zur Interdisziplinarität waren im Übrigen auch Resultat eines fruchtbaren interdisziplinären Diskurses, wie er in Jägers Hamburger Assistentenzeit zwischen Strafrecht, Medizin und Sexualwissenschaft herrschte, unter anderen mit Hans Bürger-Prinz und Hans Giese.

Auch wenn Jägers streng empirisch fundierter Rechtsgutsbegriff durch die nachfolgenden Diskurse in vielfacher Weise normativ, staatsschützend und re-moralisierend verwässert wurde, auch wenn das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof ihn bedauerlicher Weise nicht zur Richtschnur haben werden lassen, so behielt diese Lehre doch großen Einfluss auf den strafrechtstheoretischen Diskurs, wie er bis heute insbesondere von Winfried Hassemers Schriften und abweichenden Meinungen geprägt wird. Die interdisziplinäre Aufgeschlossenheit und Verständigung ist die zentrale Linie in Jägers Werk geblieben die er – wie sein Kollege Klaus Lüderssen es einmal formulierte – ohne Umwege, Brüche, immer nur mit „klarer Entschiedenheit bei gleichbleibender Skepsis im Grundsätzlichen“ durchhielt. Dabei blieb er immer zurückhaltend und spielte sich nie in den Vordergrund.

Die lineare Berufsbiografie beschreibt seine weiteren Identitäten nur unzureichend. Ähnlich wie er die Selbstdarstellung auf Tagungen und Vorträgen außer bei sehr ausgesuchten Gelegenheiten eher mied, schirmte er auch sein Privatleben konsequent ab. Dafür wirkte er umso nachhaltiger im institutionellen universitären Diskurs – ein Verzeichnis von eher wenig Nummern, aber jede Veröffentlichung ein Markstein – ebenso wie in unzähligen persönlichen, für seine Mitarbeiter förderlichen Gesprächen. Einerseits waren es die zu seinen zentralen Forschungsthemen veranstalteten Seminare, die berühmten, bis heute stattfindenden Dienstagsseminare der kriminalwissenschaftlichen Kollegen, in denen er seine Forschungslinien vertrat und argumentativ schärfte. Andererseits war es ein unbändiges Interesse am intradisziplinären und vor allem interdisziplinären Diskurs, welches ihn zur fachlichen Freundschaft mit Kurt und Ilse Staff oder zur Einladung von Fachfremden – z. B. Jürgen Habermas, oder dem Psychoanalytiker Tilmann Moser – veranlasste. Durch die Beteiligung an der Entwicklung des – letztlich gescheiterten – „Wiesbadener Modells“ einer juristischen Einphasenausbildung, einem mehrjährigen DFG-Forschungsprojekt zur psychoanalytisch fundierten Behandlung von Straffälligen sowie später an einem „Praxisprojekt“ zusammen mit der Frankfurter Strafjustiz versuchte er auch immer, zu der nach der Restauration von 1982 immer noch überfälligen Reform des Jurastudiums und dessen Didaktik, des Examens und überhaupt des juristischen Berufsbildes beizutragen.

Seine aufwändig vorbereitete Habilitationsschrift widmete Jäger der Strafverfolgung nationalsozialistischer Untaten („Verbrechen unter totalitärer Herrschaft“ 1967). Er bezeichnete dies als sein „Lebensthema“ (vgl. Horstmann 2006: 26). Schon die Rundfunkbeiträge zu den Nürnberger Prozessen hatten ihn aufgeweckt. Jäger betonte den individuell zu verantwortenden Beitrag der nationalsozialistischen Täter und entkräftete die vorgebrachten Entschuldigungsgründe. Hierzu konnte er über einhundert Fälle dokumentieren, in denen SS-Männer die Ausführung von Mordbefehlen erfolgreich verweigert hatten. 1962 kommentierte er den Eichmann-Prozess. 1965 focht er für die Verlängerung der Verjährungsfrist bei NS-Morden. Im Hauptstrom der Strafrechtswissenschaft scheint er sich damit kaum Freunde gemacht zu haben; anders vor allem bei den Kolleg_innen in Frankfurt/M., denn hier war seit den 1970er-Jahren ein besonderer Kreis versammelt.

Sein „Lebensthema“ brachte ihn zum Konzept einer Makrokriminalität, das als bleibende und international ausstrahlende Schöpfung Jägers gelten muss (vgl. jüngst: Ambos 2014). Hiermit setzte er sich gegen allzu enge Sichtweisen der Kriminalsoziologie und Labeling-Kriminologie ein. Die Verfolgbarkeit von Großverbrechen, die im Namen und durch Institutionen begangen werden, rückte näher; bis heute ist sie eine dogmatische Herausforderung – auch wenn sie nun im Internationalen Strafgerichtshof institutionalisiert zu sein scheint.

Aufgrund seines Interesses an politischer Kriminalität beteiligte sich Jäger, gefragt von seinem Fachkollegen und dem damaligen Bundesinnenminister Werner Maihofer, an den Auftragsforschungen zur RAF-Gewalt. Durch eine theoretische Lebenslaufperspektive und die biografischen Interviews mit wegen terroristischer Taten verurteilten Personen gelang es, die Analyseebenen der individuellen Motivation und der gesellschaftlichen Entwicklung zu verknüpfen. Das Phänomen RAF wurde als Produkt eines Gruppenprozesses und ideologischer Bedingungen in einem sozialstrukturellen Zusammenhang sichtbar.

Alle diese Themen hängen enger miteinander zusammen, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Immer steht das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Zentrum und die mit dem Strafbetrieb verbundene Politik bildet den roten Faden. Die wesentlichen Fragen einer deutschen Kriminalpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden vollständig behandelt und in einer humanistischen Weise beantwortet. Die Methode ist jeweils empirisch statt der fachüblichen Normhermeneutik. Dieses Werk hat in seiner Geschlossenheit strafrechtswissenschaftlich nicht seinesgleichen.

Jägers spezieller Ansatz spiegelt sich auch in seiner kontinuierlichen Forschung zu sozio-psychologischen Bedingungen nicht nur von Sexualstraftaten und entsprechenden, das krude „Strafübel“ überwindenden gesellschaftlichen Reaktions- und individuellen Behandlungsmöglichkeiten. Dazu gehört in besonderem Maße die im Strafrechtsdiskurs geradezu ignorant vermiedene Berücksichtigung der Gruppendynamik in der Straftatgenese.

Vieles von dem Besonderen, was Herbert Jäger beigetragen hat, ist in der Restauration des Jurastudiums seit 1982, im Strudel des Neoliberalismus und in dem Bemühen einer neuen, nicht mehr einphasig und interdisziplinär sozialisierten Strafrechtslehrergeneration, das Rad neu zu erfinden, scheinbar untergegangen. Wir hoffen, dass sein Werk gleichwohl wie ein theoretisches Vermächtnis weiterlebt und zu gegebener Zeit wieder wahrgenommen werden wird. Sein Begriff der Makrokriminalität taucht, angesichts anschwellender Kriegstätigkeit in aller Welt, bereits zunehmend auf.

Jäger hielt die Themen Staat und Recht, so sehr er sich dafür engagiert hat, auf merkwürdige Weise von sich fern; zum Jurastudium kam er erst nach einigem Zögern, die Alternative war Musik gewesen. In Hamburg gehörte er zur literarischen Szene der 1950- bis 1980er-Jahre, war beispielsweise mit Hans Henny Jahnn und Hubert Fichte befreundet. Er korrespondierte mit bedeutenden Partner_innen wie Hannah Arendt, Fritz Bauer, Ulrich Klug u.v. a. Deswegen geht sein Nachlass an das Hamburger Staatsarchiv.

Der Verstorbene hinterlässt keine näheren Verwandten, und er war das, was früher ein ‚eingefleischter Junggeselle’ genannt worden ist. Deswegen darf das Folgende auch ohne Scheu mitgeteilt werden. Denn es rundet das Bild einer Person, die trotz ihrer Bedeutung mutmaßlich niemanden zu einer biografischen Darstellung reizen wird, schon deswegen, weil der Mann seine Spuren meisterlich zu verwischen verstand. Was steckte hinter der professionellen Fassade einer hanseatisch kühlen Distanziertheit? Herbert Jäger liebte Frauen und Männer, aber ohne dass dies je mit einem der Buchstaben im Akronym LSBT* zu vereinbaren gewesen wäre. Somit gehörte er zum Lager Queer, und zwar avant la lettre. Zeit seines Lebens (über dessen Inhalte wir gar nicht soviel wissen) wollte er in keinerlei Schublade gepackt werden. Es kam ihm auf Authentizität und Qualität von Beziehungen an, nicht auf vordergründige Zugehörigkeit, weswegen er auch nirgends in den sich nach 1969 auftuenden emanzipativen Geschlechtsbewegungen mittun mochte. Aber er wusste Bescheid, ließ mit sich über all das reden und bewegte sich, so wird berichtet, auch in den Szenen.

Wir nehmen nachdenklich Abschied von einem zwar stillen, jedoch ganz besonderen, eigenwilligen, kreativen und produktiven Kriminalwissenschaftler, von einem ganz und gar ungewöhnlichen, auf seine Weise äußerst freien und genießerischen Menschen.