Z Sex Forsch 2015; 28(1): 57-74
DOI: 10.1055/s-0034-1399135
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Der Marquis de Sade

Albert Eulenburg
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Publikationsdatum:
24. März 2015 (online)

Zu den vom psychologischen und ärztlichen Standpunkt merkwürdigsten psychosexualen Phänomenen gehören wohl jene krankhaften Abirrungen und Ausartungen des Geschlechtssinnes, die in der französischen Fachliteratur unter der Kollektivbezeichnung des „Sadismus“ zusammengefaßt zu werden pflegen, – während bei uns, nach dem Vorgange Krafft-Ebings, dieses Wort in viel engerer und schärfer umschriebener Begrenzung, für eine ganz bestimmte Aeußerungsweise psychosexueller Abnormität, literarisch gebraucht wird. Mögen wir nun den Ausdruck „Sadismus“ in diesem engeren oder (wie ich es gerade mit Rücksicht auf den Ursprung der Bezeichnung für richtiger halte) in einem weiteren Sinne anwenden: immer wird durch ihn unsere Aufmerksamkeit zurückgelenkt auf den Mann, nach dem dieser Ausdruck geprägt ist, auf den „célèbre Marquis“, der in seiner Persönlichkeit wie in seinen hinterlassenen Geistesprodukten ein der psychologisch-ärztlichen Betrachtung nicht unwerthes, in gewissem Sinn vielleicht einzigartiges psycho-pathologisches Problem bietet. Ich sehe dabei natürlich ab von dem schaurig beklemmenden Reiz, den an sich schon die vollendete Verkörperung des nicht nur Unsittlichen, sondern direkt Widersittlichen, des Bösen, Satanischen – wie sie uns in reifer künstlerischer Ausprägung etwa in den Bühnengestalten eines Richard des Dritten, Jago, Franz Moor, Zenci entgegentritt – auf die zum Gruseln willig erhitzte Phantasie empfänglicher Gemüther auszuüben vermöchte. Für die wissenschaftliche Denkweise giebt es auch hier nur ein Objekt und ein Problem des Erkennens. Ich meine, daß dem Freunde der Seelenforschung, namentlich wenn er zugleich Arzt ist, wohl als eine nicht abzuweisende, in gewissem Sinne verlockende Aufgabe erscheinen darf, auch in diese Seelenabgründe hineinzuleuchten, in die Gedankenwelt eines solchen aus dem Gleichgewicht gebrachten Gehirns – eines „déséquilibré“, wie der treffende französische Ausdruck lautet – einzudringen oder ein solches Eindringen doch wenigstens zu versuchen. Und dazu bietet uns der vielgenannte Verfasser von „Justine“ und „Juliette“ in den unendlich breiten und redseligen, mit offenbarer Vorliebe behandelten lehrhaften Exkursen, die nahezu die Hälfte seines zehnbändigen Hauptwerkes einnehmen und das geistige Portrait des Autors in naiver Selbstgefälligkeit von allen Seiten zurückspiegeln, ein unvergleichliches und in seiner Art unübertreffliches, in gewissem Sinne fast Rousseaus Confessions an die Seite zu stellendes Mittel.

Der Grundton aller dieser mit viel phrasenhafter Rhetorik und mit professoralem Unfehlbarkeitdünkel vorgetragenen Raisonnements ist freilich bis zur einförmigsten, ermüdendsten Monotonie immer und immer wieder unaufhörlich derselbe. Ein uns als wahnwitzig oder verrucht erscheinender, brutaler, unerbittlicher, über jedes menschliche Maß hinauswachsender – man möchte sagen: absoluter – Egoismus feiert hier seine grauenerregenden Orgien. Ganz ausschließlich das eigene Ich ist das einzig zum Dasein Berechtigte, Reale, und alles Uebrige fällt, im Grunde genommen, in den Gesichtskreis dieses Ich nur so weit, wie es als vorgesetztes Genußmittel zur Befriedigung der egoistischen Antriebe und Gelüste zu dienen und als Opfer dafür zu bluten bestimmt, naturgemäß prädestinirt ist. Wenn auf dem von kantischer Ethik durchtränkten, absolut-idealistischen Standpunkte eines Fichte die Welt bekanntlich das „versinnlichte Material unserer Pflicht“ ist, so erscheint hier auf dem äußersten ethischen Gegenpol die Welt nur als das versinnlichte Material eigenen bestialischen Genußtriebes. Max Stirners „Einziger“ und Nietzsches „Uebermensch“ erscheinen hier nicht nur antizipirt, sondern selbst in den äußersten, barocksten Konsequenzen ihrer Entwickelung schauerlich weit – man möchte glauben, in parodistischem Uebermuth – überboten. Aber auch die aus einem mißverstandenen und auf Abwege gerathenen Darwinismus neuerdings hier und da entnommenen rohen Kraftkonsequenzen sind dort schon lange vorausahnend gezogen, so daß gerade in dieser Hinsicht das Studium de Sades auf so manche, das nackte Gewaltrecht des Stärkeren proklamirende und jede altruistische Regung als Rückfall in überwundene geistige Kinderkrankheit verhöhnende Geistesoffenbarung unserer „Jüngsten“ ein grell aufzuckendes Licht wirft.

Obgleich ich in Verfolgung der mit dem nervenärztlichen Gebiete vielfach so eng zusammenhängenden sexualpathologischen Probleme seit Jahren der Persönlichkeit und den Werken de Sades ein eingehendes Studium gewidmet habe, würde ich mich doch kaum veranlaßt fühlen, darüber öffentlich das Wort zu ergreifen, wenn ich nicht die Bemerkung gemacht hätte, daß in der betreffenden Fachliteratur zwar überaus häufig von de Sade und seinen Schriften die Rede ist, daß aber so ziemlich Alles, was man darüber zu hören und zu lesen bekommt, von der vollkommensten Unkenntniß des behandelten Objektes Zeugniß giebt. In der That darf man sagen, daß sowohl Lebensgang und Charakter des Autors wie Form und Inhalt seiner Werke zu den „bestunbekannten“ Dingen gehören und auch Denen sehr häufig fremd geblieben sind, die sich darüber mit oft verblüffender Zungen- und Federgewandheit verbreiten. Das ist aber kein so ganz gleichgiltiger Umstand. Es ist doch nicht zu verkennen, daß wir es bei de Sade nicht mit dem ersten besten pornographischen Autor gewöhnlichen Schlages zu thun haben, sondern daß es sich hier um eine ganz ungewöhnliche persönliche und literarische Erscheinung, um eine, ich möchte sagen, direkt aus dem Urquell des Bösen schöpfende antimoralische Kraft handelt. Auf der anderen Seite lassen sich auch mannigfache Beziehungen zu verwandten Richtungen und philosophisch-literarischen Bewegungen unserer Zeit nicht in Abrede stellen. Wenn auch bei der erweiterten Kenntniß unsere menschliche Theilnahme nichts zu gewinnen hat, so wird doch unser der krankhaften Einzelerscheinung zugewandtes wissenschaftliches Interesse durch eindringende Analyse und durch Aufdeckung der Fäden, die auch jene mit Menschen und Dingen ihrer Zeit und Umgebung verknüpfen, in vollerem Maße befriedigt.