Gesundheitswesen 2015; 77(03): 133-136
DOI: 10.1055/s-0035-1545292
Stellungnahme
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sozialmedizin und (normative) Versorgungsforschung

Zur Verleihung der Salomon Neumann Medaille der DGSMP 2013Social Medicine and (Normative) Health Services Research
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. März 2015 (online)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Müller, lieber Eckhard Nagel – und lieber Herr von Mittelstaedt,

Ihr sommerlicher Anruf von der Spitze Feuerlands kam völlig überraschend – wieso, dachte ich, muss einer sich so weit entfernen, um eine so nahegehende Mitteilung zu machen?

Und die Mitteilung ging mir nahe, sie war gänzlich unerwartet und freute mich sehr.

So danke ich Ihnen und dem gesamten Vorstand der DGSMP für die Ehre der Verleihung der Salomon Neumann Medaille 2013.

Die dazugehörenden Prozesse sind mir nicht ganz unvertraut. Ich hatte das Privileg, auch mit Laudationes an 3 solcher Verfahren beteiligt zu sein. Von 1993 bis 2002 war ich Vizepräsident der DGSMP. Danach gab es manches Auf und Ab in unserer Beziehung – und umso erleichterter war und bin ich, dass Sie sich meiner freundlich erinnert haben.

Und dass dies dann noch nach Marburg führt! Wo sich Lebenswege von Fritz Hartmann, Johannes Siegrist (2 der Laudanden) und mir biografisch wie wissenschaftlich berührten:

Fritz Hartmann (1920–2007) war hier zwischen 1957 und 1964 Leiter der Medizinischen Poliklinik; auf ihn geht der Bau einer Baracke hinter der damals an der Robert Koch Straße gelegenen Poliklinik zurück. Diese Baracke war für mehrere Jahre Unterkunft der Medizinischen Soziologie unter der Führung von Johannes Siegrist. Ich war zwischen 1973 und 1978 sein Mitarbeiter, bis ich in an der Medizinischen Hochschule Hannover unter Anleitung und Förderung Fritz Hartmanns Internist und Rheumatologe wurde.

Johannes Siegrist ist heute Abend anwesend, wir sind uns freundschaftlich verbunden. Lieber Hannes, ich freue mich und ich danke Dir sehr, dass Du gekommen bist!

Wichtiger als diese bio-geografischen Reminiszenzen sind wissenschaftsbiografische: In Marburg gewann ab 1973 die deutsche Medizinsoziologie ein bis heute maßgebendes Profil, und in Marburg begann für mich die Entwicklung in Richtung einer soziologisch informierten, später klinisch betonten Sozialmedizin.

Die Arbeiten von Johannes Siegrist und der verschiedenen Generationen seiner Mitarbeiter (viele besetzen heute wichtige Lehrstühle und Professuren) lassen sich 3 mit einander verbundenen Themenbereichen zuordnen: 1. der evaluativen Versorgungsforschung (Stichworte: Patient im Krankenhaus, Lebensqualität chronisch Kranker), 2. der pathophysiologischen Theorie- und Modellbildung (Stichwort: KHK und Gratifikationskrise) und 3. der Public Health Forschung (Stichwort: soziale Ungleichheit in und außerhalb der Arbeitswelt).

Die Stärke dieser Medizinsoziologie lag und liegt aus meiner Sicht in ihrer inneren Disposition und ihrem Potenzial zur Theorie- und Modellbildung, sei es im Bereich der Soziologie sozialer Schichtung, im Schnittfeld des Biopsychosozialen oder der Organisations- und Herrschaftssoziologie. Und mit mikrosoziologischer Versorgungsforschung – Patienten- und Personalbefragungen und Visitenanalysen im Krankenhaus – begann die Marburger Arbeit, in starker Identifikation mit dem – mehrfach – „beherrschten“ Patienten.

Wird man, so geprägt, dann selbst Mitarbeiter der Klinik, lässt sich die analytische Distanz einer Soziologie der Klinik nicht streng durchhalten; und man kann auch nicht immer mit der geballten Faust in der Tasche Visite machen. Es entsteht unabweisbar der Impuls zu einer Soziologie in der und für die Klinik. Und so veränderten sich für mich in der auf Marburg folgenden Dekade in Hannover die Perspektiven und Gewichte.

Vielleicht begann es im allerersten Kontakt mit der MHH: dem Bewerbungsgespräch bei Fritz Hartmann schloss sich die Einladung an, ihn gleich in die sog. Grand Round des Departments Innere Medizin zu begleiten. Dort wurde der Fall einer Frau vorgestellt, die aus einer okkulten Quelle fast verblutet wäre. Es war klar, sie verlor beständig Blut über den Darm – aber woher und wie zu heilen? Und es marschierte eine ganze Phalanx von hochspezialisierten Ärzten auf: HNO-Ärzte, Gastroenterologen, Abdominalchirurgen, Radiologen, Genetiker … Jeder sah den Fall aus seiner Perspektive, mit seinen Scheuklappen. Keiner nahm die anwesende Patientin als Person wahr.

Auf dem Rückweg ins Hartmannsche Zimmer kommentierte ich dies und kritisierte die Vorstellung als typisches Beispiel für die inhumane Fragmentierung klinischer Patienten. Ich hatte Anselm Strauss gelesen. Daraufhin Fritz Hartmann sehr knapp: ob es mir lieber gewesen wäre, die Frau wäre verblutet? Nur in der Zusammenarbeit aller Spezialisten war es zu deren ganzem Stolz gelungen, eine angeborene Gefäßanomalie einer Arterie im Bauchraum angiografisch darzustellen und operativ zu sanieren.

Die klinische Medizin ist eine Praxis-, eine Behandlungswissenschaft mit den Zielen klinische Prävention, Heilung, Leidenslinderung, Rehabilitation und Palliation. Sie ist als zentrales Element der institutionalisierten medizinischen Versorgung unter mehrere sehr unterschiedliche Leistungsanforderungen gestellt. Sie sind in § 70 SGB V zusammengefasst: Bedarfsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Evidenzbasierung, Wirtschaftlichkeit, fachliche Qualität, Humanität. Man darf nicht nur einen Anspruch verwirklichen wollen.

Und so weitete – und verengte – sich der aus Marburg mitgebrachte Horizont in Hannover im Übergang von einer Soziologie der Medizin zu einer klinisch geprägten Sozialmedizin.

Es öffnete sich das ganze Gebiet der Inneren Medizin mit ihren Handlungsimperativen, und es kamen die normativen Kontexte klinischen und Versorgungshandelns in den Blick: vor allem die klinische Deontologie und das Sozialrecht.

Damit ging es in die Breite der klinischen und Versorgungspraxis, nicht in die analytische Tiefe der soziologischen Reflexion und Theoriebildung. Die soziologische Anbildung legte es aber nahe, über den Tellerrand der Klinik hinauszugehen und das System der medizinischen Versorgung in den Blick zunehmen, auch um diese – für chronisch Rheumakranke – weiterzuentwickeln.