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DOI: 10.1055/s-0035-1547543
Interview zur Homöopathie in Brasilien mit Frau Prof. Dr. Silvia Waisse
Professorin für Wissenschaftsgeschichte, PUC-SP, BrasilienPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
26. Juni 2015 (online)
Welche Rolle spielt die Homöopathie in Brasilien tatsächlich?
Die Homöopathie ist in Brasilien formal institutionalisiert und als reguläres medizinisches Fachgebiet anerkannt. Wann immer die Möglichkeit besteht, sich mittels Homöopathie behandeln zu lassen, nimmt die Bevölkerung dies gerne an und äußert sich auch anderen gegenüber positiv dazu. Die Homöopathie koexistiert sehr friedlich mit anderen medizinischen Fachgebieten und befindet sich im Rahmen der integrativen Medizin auch in einem ständigen Dialog mit diesen Fachgebieten.
Die Homöopathie hat das Interesse vieler Verantwortlicher im allgemeinen Gesundheitssystem Brasiliens (Sistema Único de Saúde - SUS) geweckt (siehe unten) und es gibt bereits eine beachtliche Zahl sehr positiver Erfahrungen. In dieser Hinsicht lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auf die wachsende Rolle der Homöopathie in der medizinischen Grundversorgung zu lenken. Besuche bei Homöopathen werden genauso wie Besuche bei anderen Ärzten durch Krankenversicherungen übernommen. Einige Versicherungen haben Treueprogramme für Homöopathie ins Leben gerufen, um die mit Notfall- sowie Krankenhausbehandlungen in Zusammenhang stehenden Kosten zu senken.
Am bemerkenswertesten ist die Tatsache, dass, wann immer Homöopathie angeboten wird, dieses Angebot von allen Bevölkerungsschichten genutzt wird. In den Massenmedien muss die Homöopathie jedoch noch bekannter gemacht werden.
Medizin nur für Privilegierte − oder für jedermann?
In Brasilien wird Homöopathie auf allen drei Ebenen der medizinischen Versorgung angeboten − ganz gleich, ob die Behandlung als privat Versicherter, gesetzlich Versicherter oder im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens in Anspruch genommen wird.
Welche Rolle spielt die Homöopathie im allgemeinen Gesundheitssystem Brasiliens (SUS)?
2006 hat das Gesundheitsministerium eine nationale Politik für Integrative und Komplementäre Praktiken (PNPIC) auf den Weg gebracht, um Komplementär- und Alternativmedizin, einschließlich Homöopathie, im Rahmen des allgemeinen Gesundheitssystems (SUS) zu fördern. Da aufgrund dessen Struktur die Verwaltung jedoch dezentralisiert ist, haben die kommunalen Verantwortlichen vor Ort das letzte Wort bei der Einführung der Homöopathie in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Aus diesem Grunde bietet sich im Land ein sehr vielfältiges Bild.
Ist es während der letzten 10 Jahre zu Veränderungen gekommen?
Während der letzten 10 Jahre ist das Bild durch die allgemeine Verarmung der Mittelschicht geprägt worden, wodurch es auf allen klinischen Fachgebieten, d. h. denjenigen, die keinen großen Apparatepark benötigen (Allgemeinmediziner, Kinderärzte usw.) zu einem deutlichen Rückgang bei der Anzahl der Arztpraxen gekommen ist, die privat und besonders gesetzlich Versicherte behandeln (die Honorare waren zu gering, um eine Praxis geöffnet zu halten). Als klinisches Fachgebiet erlitt die Homöopathie das gleiche Schicksal wie andere Fächer, die ohne zusätzliche diagnostische Apparatur auskommen, wie Haus- oder Kinderärzte.
Wissen Sie, von wie vielen Ärzten wir hier reden?
Laut den neuesten offiziellen Daten (Bundesärzterat (CFM)/Landesärzterat von São Paulo, medizinische Demografie in Brasilien, 2013) gibt es 2458 homöopathische Ärzte (insgesamt gibt es 388015 Ärzte, von denen 207879 Fachärzte jeglicher Richtung sind).
Wie wird man normalerweise Homöopath?
Jeder, der Homöopath werden möchte, muss zuerst ein reguläres medizinisches Diplom erlangen und anschließend einen theoretischen und praktischen Kurs an einer der Schulen belegen, die vom Ausschuss für Lehreinrichtungen/Brasilianischen Ärzteverband für Homöopathie zugelassen sind. In Brasilien ist Homöopathie ein reguläres medizinisches Fachgebiet, und daher müssen Homöopathen, die von der brasilianischen Ärztekammer offiziell als Fachärzte zugelassen werden möchten, eine Prüfung ablegen, deren Form der jedes anderen medizinischen Fachgebiets ähnelt. Die Zulassung muss alle 5 Jahre auf der Grundlage der wissenschaftlichen Leistung aktualisiert werden (Teilnahme an Seminaren, Konferenzen, Veröffentlichungen, usw.).
Gibt es Laienheiler?
Nein. Laienmedizin ist in Brasilien seit 1889 verboten.
Es sollte vielleicht ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass neben Ärzten auch Tierärzte, Apotheker und Zahnärzte als Homöopathen zugelassen werden können, um im Rahmen ihres entsprechenden Fachgebiets zu praktizieren.
Tut sich etwas an den Universitäten?
Ja, sehr viel! In den letzten Jahrzehnten hat eine Vielzahl von Homöopathen den Austausch auf Universitätsebene gesucht, indem sie einen MA-/PhD-Abschluss mit Dissertationen zu verschiedenen Themen der homöopathischen Theorie und Praxis gemacht haben. Einige Homöopathen haben es geschafft, Homöopathie als (optionales) Fach im Studienplan von medizinischen Fakultäten zu etablieren, andere haben Forschungszentren eingerichtet (vorwiegend in der Grundlagenforschung).
Zu guter Letzt möchte ich noch eine historische Kuriosität erwähnen. Eine der ordentlichen medizinischen Fakultäten der staatlichen Universität von Rio de Janeiro (UNIRIO) war ursprünglich eine Fakultät für homöopathische Medizin, ganz so wie diejenigen in den USA. Mit der Zeit wandelte sie sich zu einer ordentlichen Fakultät, aber als Anerkennung ihres Ursprungs wurde ein Lehrstuhl für Homöopathie geschaffen, an dem vor ungefähr 10 Jahren die erste Facharztausbildung der Welt in Homöopathie gemacht werden konnte. Als Fortsetzung dieser Entwicklung wurden vor kurzem 2 neue Facharztausbildungsprogramme ins Leben gerufen, eines in Minas Gerais und das andere in Mato Grosso do Sul.
Gibt es Fachbibliotheken oder Fachinstitute?
Die Bibliothek des Ärzteverbandes für Homöopathie von São Paulo (APH) ist eine Präsenzbibliothek im Rahmen des PAHO/WHO-Systems (der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation/Weltgesundheitsorganisation) sowie der regionalen medizinischen Bibliotheken (BIREME). BIREME/PAHO/WHO betreiben eine virtuelle Gesundheitsbibliothek (BVS), einschließlich einer speziellen Abteilung für Homöopathie (http://homeopatia.bvs.br/php/index.php).
Wie sieht es mit der Forschung durch Universitäten, Ärzte, pharmazeutische Unternehmen und Apotheken aus?
Gegenwärtig ist Brasilien das Land, das am meisten zur Grundlagenforschung auf dem Gebiet Homöopathie/hohe Verdünnungen beiträgt, wie internationale Publikationsmetriken sowie die neuesten Daten der HomBrex-Datenbank (Karl und Veronica Carstens-Stiftung) belegen. Die Forschung findet vorwiegend an Universitäten statt und wird durch Regierungsbehörden finanziert, normalerweise jedoch parallel zu einer nicht-homöopathischen Hauptstudie. Es wurden aber auch mehrere MA- und PhD-Dissertationen mit ausdrücklich homöopathischen Themen durch die Regierung finanziert.
Alternativ dazu werden viele Forschungsprojekte durch die homöopathischen Apotheken/die brasilianische Vereinigung der homöopathischen Apotheker (ABFH) unterstützt, die kostenlos Heilmittel (auch für randomisierte, placebo-kontrollierte, doppelblinde Studien) und in letzter Zeit auch finanzielle Mittel bereitstellen. 2013 hat die ABFH den ersten Aufruf gestartet, Forschungsprojekte auf der Grundlage einer durch Fachleute vorgenommenen Bewertung der Leistung zu finanzieren, allerdings lediglich in Höhe von ungefähr 4000 Euro.
Praktische Ärzte in privaten Praxen tragen in der Regel nicht zur Forschung bei und studieren auch nicht unbedingt wissenschaftliche Literatur.
Andererseits haben Homöopathen im Rahmen des SUS systematisch versucht, bevölkerungsbasierte Studien zu epidemischen/endemischen Erkrankungen durchzuführen. Hier sind besonders Projekte über Denguefieber zu nennen. Diese Projekte sind immer wieder aufgrund der mangelnden Unterstützung, wenn nicht sogar des ausdrücklichen Verbots durch die Regierung gescheitert (trotz der Tatsache, dass die nationale Politik der Integration der Komplementär- und Alternativmedizin in Kraft ist und das Gesundheitsministerium dafür über eine spezielle Abteilung verfügt).
Es sollte unbedingt auch darauf hingewiesen werden, dass das Gesundheitsministerium 2012 den ersten Aufruf für die Finanzierung von Forschungsprojekten im Bereich Komplementär- und Alternativmedizin gestartet hat: Jedoch erhielt kein Projekt im Bereich der Homöopathie irgendwelche Fördermittel. Die Begründung, eine unzureichende Zahl hochrangiger Publikationen, war tatsächlich nicht gegeben und nicht nachvollziehbar. Eines der Projekte setzte auf Kooperation mit europäischen Zentren und betraf eine Kosten-Nutzen-Analyse der Versorgung bei Migräne. Bei Großprojekten gewinnt man manchmal schon im Vorfeld den Eindruck, dass auch eine gewisse Entmutigung seitens der Verwaltung intendiert sein könnte.
Welche Rolle spielen die Krankenhäuser als Lehr- und Behandlungseinrichtungen?
Ein einziges Universitätskrankenhaus (UNIRIO, siehe oben) bietet homöopathische Behandlungen zusammen mit dem Facharztausbildungsprogramm an.
Gibt es lokale oder regionale „Schulen“?
Siehe unten.
Ist der Einfluss ausländischer Schulen bedeutend? Und welcher?
Das Wiederaufleben der Homöopathie in den 70er Jahren (was 1980 zur offiziellen Zulassung als reguläres medizinisches Fachgebiet führte) war stark von der argentinischen Richtung der Kent’schen Homöopathie geprägt (zuerst von Paschero und später von Eizayaga und Masi Elizalde). Daher ist der typische brasilianische Homöopath ein Kentianer (gegenwärtig ebenfalls beeinflusst durch spätere Homöopathen der Kent’schen Schule wie Scholten und Sankaran).
Meiner Meinung nach besteht der vielleicht wichtigste Beitrag der argentinischen Homöopathie in Brasilien darin, dass homöopathische Kurse keine „Wochenendkurse“ sind, sondern dass eine umfassende praktische Ausbildung mit echten Patienten zwingend erforderlich ist.
Brasilianer sind jedoch sehr aufgeschlossen, und daher sind in Brasilien auch viele andere homöopathische Richtungen bekannt, die jeweils über eine gewisse Anhängerschaft verfügen.
Gibt es andere Gruppen/Richtungen als die Kentianer in Brasilien?
Homöopathie wird in Brasilien seit den 1840er Jahren ununterbrochen ausgeübt. Wie ich bereits zuvor ausgeführt habe, hat sich die Homöopathie im Land als Hausmedizin sowie über die „verschreibenden Medien“ – also von Kardec spiritistisch inspirierte, meist gebildete Laien – verbreitet, was bis in die jüngste Zeit so geblieben ist. In meiner Praxis bekomme ich oft den Satz zu hören: „Meine Mutter hat mich schon als Kind mit zum Homöopathen genommen, um mich von Asthma/Allergien/Halsschmerzen kurieren zu lassen.“ Dies ist eine bedeutende klinische homöopathische Tradition aus der Zeit vor Kent, die von einzelnen Ärzten bewahrt wurde, die es zu keiner Schule gebracht haben, die jedoch bis heute fortbesteht.
Die Homöopathie wurde in den 70er Jahren durch Argentinier wiederbelebt, die nach Brasilien kamen, um zu lehren. Brasilianer wiederum gingen nach Buenos Aires, um sich dort fortzubilden. Dazu gehört Pascheros Richtung der Homöopathie (Schüler, Kollegen und Abweichler), die stark durch Kents Ansichten über Homöopathie, durch Psychoanalyse sowie Neuroendokrin-Immun-Integration (ein typischer Ansatz in den 30er und 40er Jahren) geprägt wurde. Diese Ansichten sind bis heute im offiziellen Lehrplan des AMHB (Brasilianischer Verband der Homöopathen) sowie in der Facharztprüfung zu finden.
Bevor Ariovaldo Ribeiro Filho sein erstes homöopathisches Repertorium Ende der 90er Jahre auf Portugiesisch veröffentlichte, benutzten die brasilianischen Homöopathen die vom Argentinier F. X. Eizayaga verfasste spanische Ausgabe von Kents Repertorium. Dieses Repertorium wurde während der Ausbildung der meisten heute praktizierenden homöopathischen Ärzte verwendet.
Die brasilianischen Homöopathen sind keine strengen „Kentianer“, wie beispielsweise die indischen Homöopathen. Sie sind jedoch stark von der Vorstellung geprägt, dass der Geist über den Körper herrscht, und dies spiegelt sich in ihrem gesamten homöopathischen Denken und Handeln wider.
Aus diesen Gründen gibt es eine Vielzahl von Abweichungen nach „links“ und nach „rechts“: Einige von ihnen sind sogar der Meinung, dass physische Erkrankungen nicht berücksichtigt werden müssen, während sich andere einem eher klinischen Ansatz zugewandt haben und „Erkrankungen“ behandeln, wobei dies jedoch stets aus dem Blickwinkel der Individualisierung der Symptome geschieht.
Dadurch lässt sich die brasilianische Homöopathie als Ganzes vielleicht am besten charakterisieren, ich meine, durch die zwingende Voraussetzung, jeden einzelnen Patienten zu individualisieren. Dies spiegelt sich praktisch in der gesamten medizinischen und wissenschaftlichen Forschung in Brasilien wider: In einer Studie wird nie eine vorgegebene Gruppe von Heilmitteln für eine Erkrankung (wie beispielsweise „Arnica für Muskelschmerzen“) verwendet, sondern alle Heilmittel werden auf der Grundlage einer systematischen Individualisierung ausgewählt, von Depressionen (Adler et al.) bis hin zu Denguefieber (mehrere Autoren, die neueste Veröffentlichung: Salles et al., DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.homp.2013.10.034).
Denguefieber ist übrigens ein hervorragendes Beispiel für diese Art von lokaler Diskussion. Ein Forscher (Renan Marino) entwickelte ein Komplexmittel zur Vorbeugung und Behandlung von Denguefieber (das schließlich patentiert wurde und in normalen Apotheken erhältlich ist). Es wurde in großem Maße von einer im Rahmen des allgemeinen Gesundheitssystems Brasiliens tätigen Homöopathin, Laila Nunes, eingesetzt (Hunderttausende von verabreichten Dosen, ich glaube, 180000 während der ersten Kampagne; es sollte vielleicht auch darauf hingewiesen werden, dass diese spezielle Ärztin sogar von den berüchtigten britischen „Skeptikern“ gelobt wurde). Nach einiger Zeit stellte sie jedoch fest, dass das Komplexmittel nicht so wirksam war, wie die anhand der Reihe von Symptomen jedes einzelnen Ausbruchs von Denguefieber gewählte Medikation, d. h. Individualisierung des epidemischen Bildes. Auf dem letzten Kongress in Brasilien, der im September stattfand, waren in der Denguefieber-Kommission diese beiden Homöopathen sowie ein dritter Homöopath vertreten, der in einem Gebiet praktiziert, das eine hohe Erkrankungsrate aufweist und von der staatlichen Gesundheitspolitik vernachlässigt wird (Mato Grosso do Sul). In diesem Gebiet behandeln Homöopathen Patienten mit Denguefieber in ihren privaten Praxen ausschließlich auf der Grundlage der Individualisierung jedes einzelnen Falls. Obwohl die Zahlen nicht gerade beeindruckend sind und die Fälle nicht systematisch erfasst und statistisch aufbereitet werden, sind die erzielten Ergebnisse sehr zufriedenstellend (und mindestens die Hälfte des an der Kongresssitzung teilnehmenden Publikums war fasziniert und stellte fest, „dies ist echte Homöopathie!“)
Sie könnten jetzt einwenden: „Dies ist Hahnemann!“ Das stimmt, aber „Hahnemann durch Kent“: Der Geist ist stets der wichtigste, wenn nicht sogar der einzige Aspekt, der zählt. Nur wenn keine „mentalen Symptome“ vorliegen − sagen wir, bei einem im Koma liegenden Patienten sind keine Angehörigen zugegen, die zu seiner Persönlichkeit befragt werden können −, wird den restlichen Symptomen ein gewisser Wert zugemessen.
Somit bietet sich uns nun folgendes Bild:
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es gibt Ärzte, die regelmäßig Heilmittel auf der Intensivstation verschreiben;
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es gibt Gruppen und Studien, die sich auf spezielle Krankheiten konzentrieren, wie beispielsweise AIDS, oder darauf, wie man unter Verwendung von homöopathisch aufbereitetem Nikotin mit dem Rauchen aufhören kann;
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ein Homöopath arbeitet dergestalt ernsthaft mit der Organtherapie, dass der gesamte brasilianische Bestand zwischen 2013 und 2014 im Einklang mit den höchsten Zertifizierungsnormen vollständig wiederaufgebaut wurde;
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es gibt in Rio eine Gruppe von Homöopathen mit umfassenden Kenntnissen im Hinblick auf neurologische und psychiatrische Erkrankungen, die der sogenannten „französischen“ Homöopathie folgen (Biotypologie und Diathesen, mit regem Gebrauch von Nosoden und Organtherapie);
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es gibt eine Gruppe, die ausschließlich auf der Grundlage der 6. Ausgabe des Organons arbeitet und dieses wörtlich nimmt;
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es gibt eine komplette Schule (ABRAH – Brasilianischer Verband für Weiterbildung und Pflege in der Homöopathie) mit einem auf der Vorstellung der „Diathese“ basierenden, vollständig nicht-Kent’schen ad-hoc-Ansatz (http://www.abrah.org.br);
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Dr. Anna Kosak Romanach war „die“ Lehrmeisterin für eine ganze Generation von Homöopathen; sie schrieb das maßgebliche Lehrbuch über Homöopathie, das bis heute verwendet wird; ihr Ansatz ist stark von der sogenannten „französischen“ Homöopathie beeinflusst (Darlegung ihrer homöopathischen Sicht: http://www.homeopatiaexplicada.com.br/index.php?option=com_content&view=article&id=2&Itemid=5);
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Marcus Zulian Teixeira hat sich 10 oder 15 Jahre lang mit den bekannten Nebenwirkungen von modernen, herkömmlichen Medikamenten beschäftigt und eine Materia medica sowie ein Repertorium mit mehr als 1000 dieser Medikamente erarbeitet (http://www.newhomeopathicmedicines.com); gegenwärtig untersucht er als Post-Doktorand an der medizinischen Fakultät der Universität von São Paulo homöopathisch aufbereitetes Östrogen für die Behandlung von Endometriose;
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In den letzten 10 Jahren (dies ist meine persönliche Einstellung, ich entschuldige mich für Voreingenommenheit) wurde den objektiven Zeichen von Heilmitteln/Patienten auf der Grundlage der Arbeit des rumänischen Homöopathen Gheorghe Jurj viel Beachtung geschenkt, der oft Seminare und Workshops mit echten Patienten durchführte (er ist vorwiegend in Südamerika, Spanien und Portugal sowie Osteuropa einschließlich Russland bekannt, jedoch nicht in Westeuropa.
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Es findet gerade eine deutliche Verlagerung hin zur sogenannten „integrativen Medizin“ statt, wobei Homöopathen damit beginnen, komplexer zu denken und die Homöopathie als in die herkömmliche Medizin integriert zu begreifen, anstatt in ihr einen „alternativen“ Gegensatz zu sehen. Das Gleiche gilt auch für herkömmliche Ärzte, und daher sind beispielsweise gemeinsame Studien/Querverweise nichts Ungewöhnliches mehr. Das folgende Beispiel http://www.catem.com.br/terapias-integrativas.php stammt aus einem neurologischen Behandlungs- und Forschungszentrum an einer der renommiertesten medizinischen Fakultäten Brasiliens.
Dies sind nur einige Beispiele, die mir spontan eingefallen sind. Außerdem sollte ich vielleicht darauf hinweisen, dass die durch Vithoulkas vertretene Richtung der Homöopathie in Brasilien vollständig ignoriert wird, geradezu so, als ob es sie überhaupt nicht gäbe.
Spielen Komplexmittel eine wichtige Rolle auf dem Markt, oder herrschen Einzelmittel vor − zumindest bei den von den Ärzten ausgestellten Verordnungen?
Es werden nur sehr wenige Komplexmittel ohne Verordnung verkauft: das Denguekomplexmittel, 2 (zwei!) Mittel von Boiron (Sédatif und Stodal) sowie eines von einem lokalen Labor (auch gegen Angstgefühle). Darüber hinaus gibt es vielleicht auch welche, die ich nicht kenne. Es gibt praktische Ärzte, die komplexe Formeln verschreiben. Ich habe Verordnungen mit mehr als 20 Heilmitteln gesehen!!! Ich weiß nicht, wo sie dies gelernt haben, oder über welche theoretischen Grundlagen sie verfügen. Die meisten Homöopathen verschreiben Einzelmittel, oder einige wenige (wie eine Nosode, das konstitutionelle Heilmittel [„Simillimum“] sowie ein „akutes“ Heilmittel, meistens im Wechsel).
Heilmittel werden individuell von Apotheken angefertigt … Es mag arrogant klingen, aber ein Freund von mir hat die Situation perfekt beschrieben: „In Europa verkauft man Prêt-à-porter-Homöopathie, in Brasilien haben wir Haute Couture“. So tun beispielsweise die Anhänger von Masi Elizalde etwas, das als „Feinabstimmen“ von Potenzen bekannt ist, so dass sie etwas wie 100000 FC, 16 CH oder 418 CH verschreiben können; oder wir können um mehr oder weniger Verschüttelungen bei jedem Schritt bitten … oder wir können neue Heilmittel von Grund auf anhand der Skala zubereiten, die uns am besten gefällt … was nur mit handwerklichem Können möglich ist … Die homöopathischen Apotheker in Brasilien sind bei der Identifizierung der Quellen und der Zubereitung der Potenzen sehr sorgfältig und gründlich. Sie gehen dabei so weit, dass sie komplette Bestände an Grundstoffen neu erstellen, um deren Qualität zu gewährleisten, und einige von ihnen haben sogar dieselbe Qualitätsbescheinigung erhalten wie große pharmazeutische Unternehmen. Daher verfügen wir über eine breite Palette von Heilmitteln in allen möglichen Skalen und Graden, sogar über eine vollständige Reihe von LM-Potenzen (Q-Potenzen), die exakt so zubereitet wurden, wie von Hahnemann beschrieben (bekannt als „standardisierte LM-Potenzen“).
Hat die brasilianische Homöopathie andere Länder und Schulen beeinflusst? Welche?
Masi Elizalde scheiterte in Argentinien, und die meisten seiner Anhänger waren in Brasilien, der Schweiz und Frankreich zu finden, wo sie noch bis heute tätig sind. In Brasilien wurde bis heute noch keine richtige nationale homöopathische Denkrichtung formuliert. Meines Wissens ist in Brasilien weltweit die wichtigste (einzige?) Gruppe zu finden, die die LM-(Q)-Methode gemäß der ursprünglichen Richtlinien Hahnemanns weiterentwickelt hat. Aber ich glaube, dass sie woanders keinen Einfluss hat.
Welche historischen Besonderheiten weist die brasilianische Homöopathie auf − falls es welche gibt …?
Die Geschichte der brasilianischen Homöopathie ist wahrscheinlich die merkwürdigste der ganzen Welt (Entschuldigung, ich übertreibe nicht…). Die Homöopathie kam in Brasilien gegen 1840 auf, also mehr oder weniger zur gleichen Zeit wie in anderen Ländern auch: einige (vorwiegend französische) Homöopathen kamen nach Brasilien und begannen zu lehren und zu praktizieren; sie wurde von der Elite unterstützt (sogar vom brasilianischen Kaiser Peter II.), wurden von der offiziellen Medizin bekämpft, waren dort erfolgreich, wo die konventionelle Medizin versagte (z. B. Cholera und Gelbfieber), gründeten Lehr- und Behandlungseinrichtungen, usw.
Ab den 1860er Jahren kam es zu einer Reihe wichtiger Ereignisse: 1) eines führte zur erfolgreichen Institutionalisierung, was 1912 die Gründung der Fakultät für homöopathische Medizin (heute UNIRIO) zur Folge hatte. 2) Der Spiritismus Kardecs fasste in Brasilien Fuß (bis heute). Laut Kardec (der behauptete, mindestens dreimal mit Hahnemann selbst in Sitzungen gesprochen zu haben) ist Homöopathie „spiritistische Medizin“ schlechthin. Der Spiritismus Kardecs machte den größten Eindruck auf die gebildetsten Schichten der brasilianischen Bevölkerung. Dies sowie die Tatsache, dass es bis ins späte 19./frühe 20. Jahrhundert in weiten Teilen des Landes praktisch keine Ärzte gab (so kam der erste Arzt erst um 1906 in den reichen Bundesstaat Paraná), führte dazu, dass die sogenannten „verschreibenden Medien“, die es in beträchtlicher Anzahl im ganzen Land gab, zu den wichtigsten Gesundheitsdienstleistern wurden und die Homöopathie zur am häufigsten genutzten Hausmedizin in den Gebieten wurde, die weit von den großen Städten entfernt lagen (Rio de Janeiro und besonders Salvador, Bahia, wo die ersten beiden medizinischen Fakultäten erst 1832 gegründet wurden…).
Die Verbindung zwischen Homöopathie und Spiritismus wurde besonders von Bezerra de Menezes (1831−1900) gestärkt, einem Arzt und Politiker, der zu beidem „bekehrt“ wurde. Die Koexistenz war nicht nur friedlich, sondern wurde in großem Maße gefördert, sogar von den medizinischen Homöopathen … bis die Laienmedizin zusammen mit der Ausrufung der Republik 1889 verboten wurde … ab diesem Zeitpunkt verrieten (ein starker Ausdruck, aber es gibt keine andere mögliche Interpretation) die medizinischen Homöopathen die Heilmittel verschreibenden spiritistischen Medien und strebten nicht nur danach, sich (und die Homöopathie) von ihnen zu lösen, sondern verunglimpften sie sogar.
Aus historischen Gründen (Spiritisten und davor der sozialistische Utopist Benoît Mure, der von 1840 bis 1848 in Brasilien wirkte, sowie der lazaristische Chirurg João V. Martins, die rechte Hand von Mure) engagieren sich brasilianische Homöopathen stark für die Armen (damals auch für Sklaven), weshalb alle brasilianischen Homöopathen zeitweise umsonst arbeiten und Apotheken kostenlos Heilmittel abgeben. Ich wüsste nicht, dass dies irgendwo anders auf der Welt geschieht.
Das Interview führte Prof. Dr. Martin Dinges.