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DOI: 10.1055/s-0035-1557495
Sucht und Kausalität – Ein Plädoyer für Bescheidenheit
Wenn Human- und Sozialwissenschaftler von Kausalität sprechen, so stellen sie sich meist den Vergleich einer Experimentalbedingung mit einer Kontrollbedingung vor. In der Experimentalbedingung wird durch gezielte Intervention, zum Beispiel durch die Gabe eines Medikaments, eine von der Vergleichssituation abweichende „kontrafaktische Situation“ geschaffen. Die Zuordnung zu den beiden Bedingungen erfolgt idealerweise im Rahmen eines randomisierten kontrollierten Experiments (RCT), damit sich unkontrollierte Drittvariablen nicht störend auswirken können. Der kausale Effekt ergibt sich dann als Differenz zwischen den beiden Versuchsbedingungen. Es steht außer Frage, dass randomisierte kontrollierte Studien zur Erforschung von Kausalität den Königsweg darstellen. Metaanalysen über RCTs werden von den Anhängern der „evidenzbasierten Forschung“ daher auch als höchste Stufe der Evidenz präsentiert. In den Human- und Sozialwissenschaften allerdings einseitig und unkritisch auf RCTs zu setzen ist aus vielen Gründen problematisch. Gravierende Fehlinterpretationen treten allerdings auch bei RCTs auf und für die Mehrzahl der Fragestellungen sind RCTs aus ethischen, technischen, ökonomischen und ontologischen Gründen nicht durchführbar (vgl. Uhl, 2012, 2013).
Wie das Beispiel des Medikaments Contergan in den frühen 1960er Jahren lehrt, können auch bei gut geplanten Experimenten leicht gravierende Nebeneffekte übersehen werden. Die Experimentalbedingungen sind auch bei präzise und sorgfältig durchgeführten Experimenten (hohe interne Validität) von der Realität oft so weit abweichend, dass die Ergebnisse kaum auf reale Alltagssituationen übertragbar sind (niedrige externe Validität, vgl. Campbell & Stanley, 1963). Selbst von den Vätern der evidenzbasierten Forschung (z.B. Cochrane, 1972 oder Sackett et al., 1996) wird nicht in Abrede gestellt, dass RCTs in vielen Situationen weder sinnvoll noch durchführbar sind. Die in diesem Zusammenhang geäußerte Forderung, die bestmöglichen Schlüsse aus der besten vorhandenen Evidenz zu ziehen, was unsystematische Erfahrung und Intuition einschließt, hilft hier nur wenig weiter (Uhl, 2015a, 2015b). Sich ausschließlich auf Erfahrung und Intuition zu verlassen, sich also methodologisch zurück vor das Zeitalter der Aufklärung zu begeben, kann kein Ausweg sein. Ergänzend zu Alltagserfahrung und Intuition muss auf systematisch erhobene Beobachtungsdaten zurückgegriffen werden. Im Sinne Poppers (1934) geht es darum, möglichst viele konkurrierende Alternativhypothesen zu entwickeln, diese auf logische Konsistenz zu prüfen und aus diesen – mit dem Ziel sie zu falsifizieren – überprüfbare Behauptungen abzuleiten. Wenig zielführende Hypothesen werden auf diese Weise eliminiert. Wie Rothman & Greenland (1998) argumentieren, ist der unbefriedigende Zustand vieler Forschungsbereiche darauf zurückzuführen, dass Poppers Prinzip nicht beachtet wird und Wissenschaftler beharrlich versuchen, selektiv und unkritisch Evidenz zu sammeln, die ihre Lieblingstheorien zu bestätigen scheint, um diese so als gesicherte Theorien zu präsentieren.
Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass ganz grundlegende forschungsmethodologische Grundprinzipien, zu denen auch das Wissen um Verzerrungen, Artefakte und unzulässige Schlussfolgerungen gehört, nur unzureichend bekannt sind und dass selbst dort, wo Interpretationsprobleme bekannt sind, den Menschen ihr psychischer Apparat einen Streich spielt, indem er spontane, intuitive Urteile als gesichert und faktengestützt erscheinen lässt. Wie Kahneman (2012) betonte, gibt es zwei Instanzen, die das menschliche Verhalten kontrollieren. Ein intuitives „kognitives System 1“, das spontan und rasch entscheidet, und ein rationales „kognitiven System 2“, das bewusst und langsam agiert. Meist hat das System 1 Kontrolle über unser Verhalten und das „kognitive System 2“ mischt sich nur selten ein. Das bewirkt, dass das, was wir theoretisch eigentlich wissen, in der Praxis oft bedeutungslos bleibt, ohne dass uns dieser Widerspruch auffällt. Ich konnte oft beobachten, wie Suchtexperten im theoretischen Diskurs mit Emotion und Nachdruck betonten, dass der Ausdruck „Drogen“ unbedingt als Überbegriff über legale und illegale Drogen zu verstehen sei, unmittelbar danach aber den Ausdruck „Drogen“ konsequent als Synonym für „illegale Drogen“ verwendeten. Ganz ähnlich ist die Situation, dass fast jedem Wissenschaftler theoretisch klar ist, dass „Zusammenhang“ nicht „Kausalität“ bedeutet, das hindert aber in der Regel nicht daran, beliebige Assoziationen kausal zu interpretieren – zumindest wenn die resultierende Kausalhypothese nicht völlig absurd anmutet. Wenn der Betreffende von einer bestimmten Kausalhypothese schon zuvor überzeugt war, ist es besonders schwer, die Überzeugung, dass eine Korrelation diese bestätigt, zu erschüttern. Offensichtlich wird die Behauptung, dass ein Beweis unzulässig ist, intuitiv mit der Behauptung gleichgesetzt, dass die zu beweisende Kausalhypothese falsch sei, wogegen sich die Betreffenden wehren. Kahneman (2012) erklärt die unzulässige Gleichsetzung von Ähnlichem mit der assoziativen und intuitiven Struktur unseres „kognitiven Systems 1“ – einen Umstand, den Huff (1954) im Buch „How to Lie with Statistics“ folgendermaßen umschrieb: „Wenn du nicht beweisen kannst, was du beweisen möchtest, so beweise etwas anderes und benimm dich so, als wäre es das Gleiche.“ (Übersetzung durch den Verfasser)
Häufig wird die unzulässige Gleichsetzung von Assoziation mit Kausalität als „Cum hoc, ergo propter hoc Fehlschluss“ bezeichnet. Diese Bezeichnung trifft den Sachverhalt aber nur ungenügend, weil es sich dabei nicht wirklich um einen bewussten Schluss aus „reiner Beobachtung“ handelt, sondern – wie Michotte (1946/1982) zeigen konnte – um einen unmittelbaren Eindruck im Sinne eines Gestaltphänomens, dem wir uns kaum entziehen können. Laut Michotte erleben wir Kausalität so unmittelbar wie die Farbe „rot“. Chabris & Simon (2011) nennen dieses spontane Gefühl der Kausalität aufgrund von Assoziation „Ursachenillusion“ – einer der sechs von den Autoren beschriebenen Alltagsillusionen – und Kriz et al. (1990) erläuterten dazu, dass unser Wahrnehmungsapparat Sinneseindrücke immer schon interpretiert, weswegen etwas wie die „reine Beobachtung“ paradoxerweise nur über die gedanklich-analytische Zerlegung des Wahrnehmungserlebnisses mittels Vorwissen ergründbar ist.
Wir können die Welt nur vorhersagen und gezielt beeinflussen, wenn wir zentrale Kausalzusammenhänge in der uns umgebenden Welt verstehen. Die großen Probleme, kausale Zusammenhänge zu verstehen, können wir nur überwinden, wenn wir uns unseren Unsicherheiten stellen und Zusammenhangshypothesen kritisch überprüfen.
Gigerenzer (2008) betonte zwar, dass alltägliche Entscheidungen, die ausschließlich auf Intuition aufbauen, in vielen Situationen sehr erfolgreich sind. Das spricht dafür, dass wir unseren Intuitionen im Alltag vielfach durchaus trauen können. Gleichzeitig muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass – wie Dörner (2003) ausführte – viele Misserfolge und Katastrophen darauf zurückzuführen sind, dass intuitiv Fehler gemacht werden, die bei gründlichem Nachdenken leicht vermieden hätten werden können.
Ganz klar – wir können viele Entscheidungen nicht aufschieben und müssen handeln, selbst wenn die vorliegenden Entscheidungsgrundlagen nur unbefriedigend gesichert sind. Wir sollten uns aber – ganz besonders dort, wo diese Grundlagen auf schwachen Beinen stehen – dieser Unsicherheiten deutlich bewusst sein, wie Popper (1934/1976) forderte. Es geht darum, kreativ Alternativhypothesen zu finden und gezielt nach Konstellationen suchen, die uns dabei helfen, diese Hypothesen kritischen Prüfungen zu unterziehen. Wer sein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein nur aufrechterhalten kann, indem er in einem auf Alltagsillusionen basierendem Kohärenzgefühl schwelgt, der wird im Alltagsleben immer wieder Fehlentscheidungen treffen, die mit Glück keine gravierenden Auswirkungen haben. In den empirischen Wissenschaften aber sind Menschen ohne ausreichende Ambiguitätstoleranz fehl am Platz. Es kann nicht Aufgabe der Wissenschaft sein, intuitiv erstellte ungeklärte Hypothesen mittels logischer Fehlschlüsse als „wissenschaftlich gesichert“ zu präsentieren. Wenn man bedenkt, dass Antonovsky (1987) das Kohärenzgefühl mit psychischer Gesundheit gleichsetzte, bedeutet das unter Umständen, dass empirische Wissenschaftler nicht übermäßig psychisch gesund sein sollten.
Literatur:
[1] Antonovsky, A. (1987): Unravelling the Mystery of Health – How People Manage Stress and Stay Well. Jossey-Bass Publishers, San Francisco
[2] Campbell, D.T.; Stanley, J.C. (1963): Experimental and Quasi-Experimental Designs for Research. Rand McNally College Publishing Company, Chicago
[3] Chabris, Ch.F.; Simons, D.J. (2011): Der unsichtbare Gorilla – Wie sich unser Hirn täuschen lässt. Piper, München
[4] Cochrane, A.L. (1972). Effectiveness & efficiency: Random reflections on health services. Reprinted in 1999 for the Nuffield Trust. London: Royal Society of Medicine Press
[5] Dörner, D. (2003): Die Logik des Misslingens Strategisches Denken in komplexen Situationen, erweiterte Neuausgabe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
[6] Gigerenzer, G. (2008): Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Goldmann, München
[7] Huff, D. (1954): How to Lie With Statistics. Norton & Company, Auflage 1993, New York
[8] Kahneman, D. (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler, München
[9] Kriz, J.; Lück, H. E.; Heidbrink, H. (1990): Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Leske, Opladen
[10] Michotte, A (1982): Gesammelte Werke – Band 1 – Die phänomenale Kausalität. Hans Huber, Bern
[11] Popper, K.R. (1934): Logik der Forschung. J. C. B. Mohr (sechste verbesserte Auflage, 1976), Tübingen
[12] Rothman, K. J.; Greenland, S. (1998): Modern Epidemiology Second Edition. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
[13] Sackett, D.L., Rosenberg, W.M.C., Gray, M., Haynes, B., & Richardson, S. (1996). Editorial: Evidence based medicine – What it is and what it isn't. British Medical Journal, 312, 71 – 72
[14] Uhl, A. (2012): Methodenprobleme bei der Evaluation komplexerer Sachverhalte: Das Beispiel Suchtprävention. In: Robert Koch-Institut, Bayrisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Hrsg.): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes Evaluation komplexer Interventionsprogramme in der Prävention: Lernende Systeme, lehrreiche Systeme? RKI, Berlin, S. 57 – 78
[15] Uhl, A. (2013): Evidenzbasierung der Suchtprävention: Kontra. Suchttherapie, 14, 112 – 113
[16] Uhl, A. (2015a): Der Mythos einer rationalen Effektivitätsforschung. In: Hoff, T.; Klein, M.: Evidenzbasierung in der Suchtprävention – Möglichkeiten und Grenzen in Praxis und Forschung. Springer, Berlin (in Druck)
[17] Uhl, A. (2015b): Evidence-based research, epidemiology and alcohol policy: a critique. Contemporary Social Science (in Druck)