Geburtshilfe Frauenheilkd 2015; 75(09): 897-899
DOI: 10.1055/s-0035-1557863
Geschichte der Gynäkologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Berühmte Gynäkologen. Heinrich Martius (1885–1965) – ein wenig Bekanntes und etwas Vergessenes aus seinem Leben

Andreas D. Ebert
,
Matthias David
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Oktober 2015 (online)

Zum 50. Mal jährt sich 2015 der Todestag von Heinrich Martius ([Abb. 1]), einem der ganz großen Vertreter der deutschen Frauenheilkunde [1]. Trotz seiner Lehrbücher und trotz seiner klinischen und wissenschaftlichen Bedeutung, man denke nur an die Bulbocavernosus-Fettlappenplastik nach Martius [2], beginnt die Erinnerung an Martius zu verblassen – Grund genug, heute wieder an ihn zu erinnern.

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Abb. 1 Heinrich Martius in Göttingen 1940 (aus [1]).

Heinrich Martius wurde am 2. 1. 1885 in Berlin geboren. Sein Vater Friedrich Martius (1850–1923) war Internist, Leibarzt des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin, Ordinarius für innere Medizin, Generalarzt und Rektor der Universität Rostock. Der Bruder von Friedrich Martius – der Psychologe Prof. Dr. phil. Götz Martius – war zeitgleich Rektor der Universität Kiel. Heinrichs Mutter Martha (1861–1946) stammt aus einer angesehenen christlich-jüdischen Familie aus Ratibor. Die Familie hatte 6 Kinder [1].

Heinrich Martius erhielt seine Fachausbildung bei dem Pathologen Eugen Fraenkel (1853–1925), dem Entdecker des Gasbrandbazillus, und dem Internisten Hermann Lenhartz (1854–1910) im damals noch städtischen Klinikum Hamburg-Eppendorf sowie bei dem Chirurgen Friedrich H. Rinne (1852–1924) an der Evangelischen Elisabeth-Klinik Berlin. 1910 beendete Martius sein Studium mit der Promotion „Ein Fall von operiertem Rückenmarkshauttumor“ in Rostock [3]. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt Rektor der Universität und unterschrieb die Urkunde für den Sohn. 1910–1911 war Heinrich Martius Schiffsarzt und erlebte Passagen nach Afrika und in die USA. 1912 wurde Martius 4. Assistent der Bonner Universitätsfrauenklinik unter dem Direktorat von Prof. Otto von Franqué (1867–1937). Die Klinik bestand traditionell aus dem Direktor, 1 Oberarzt, 4 Assistenzärzten (i. d. R. bereits habilitierte Frauenärzte) und 2 bis 3 studentischen Hauspraktikanten. Im Ersten Weltkrieg führte der Direktor die Klinik teilweise allein bzw. mit Studenten, da der Oberarzt und alle Assistenten „im Felde“ waren [4]. Martius diente als Sanitätsoffizier bei den Deutzer Kürassieren an beiden Fronten. Am 31. 10. 1918 kehrt Stabsarzt d. R. Heinrich Martius nach 51 Monaten Fronteinsatz hochdekoriert an die Bonner Frauenklinik zurück. 1919 heirate Martius seine Frau Bertha, geb. Weinlig.

Im gleichen Jahr konnte er sich mit der Arbeit „Der abdominale Kaiserschnitt“ habilitieren [3]. Im Wintersemester 1922/23 avancierte Heinrich Martius zum 1. Assistenzarzt, während Prof. Hans Hinselmann (der Nachfolger Karl Reifferscheids in dieser Position) sein zuständiger Oberarzt war. 1924 wurde Martius zum nichtbeamteten außerplanmäßigen Professor der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität zu Bonn ernannt. Martius las damals u. a. das Kolleg „Röntgentiefentherapie“ [5]. Als Hinselmann als Chefarzt nach Hamburg-Altona ging, rückte Martius in die Oberarzt-Funktion der Bonner Klinik nach.

1926 erhielt Martius den Ruf an die Frauenklinik der Georg-August-Universität Göttingen, wo er 41-jährig die Nachfolge von Karl Reifferscheid (1874–1926), seinem ehemaligen Oberarzt in Bonn antrat: Wie schon zuvor in Bonn, galt auch in Göttingen der Geburtshilfe und der gynäkologischen Strahlentherapie sein besonderes Augenmerk, wie eine Aufstellung seiner Publikationen belegt [3], [6].

Die Situation für Heinrich Martius gestaltete sich nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler zunehmend schwierig, denn nach der neuen rassischen Lesart der Nationalsozialisten war Martius „Mischling 2. Grades“ bzw. „Vierteljude“ [7]. Für jüdische Hochschullehrer galt § 6 RGB und damit die Entlassung. Martius war – als hochdekorierter „Frontkämpfer“ geschützt – wahrscheinlich auch der einzige Hochschullehrer der Göttinger Medizinischen Fakultät mit jüdischem Hintergrund, der nicht aus dem Dienst entlassen wurde [1], [7], [8]. Das forderte natürlich persönliche Kompromisse. So unterschrieb Martius auch den Aufruf „Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler“ vom 19. 04. 1934 und Prof. Heinrich Martius fand Aufnahme in „Das Deutsche Führerlexikon“ [7]. Das zufälligerweise vor dem Hotel Hintersee 1935 entstandene Foto ([Abb. 2]) der 4 Martius-Söhne mit dem „Führer“ war – sicherlich sehr zum Leidwesen des durch die Rassengesetze immer bedrohten Frauenarztes – ein beliebtes Postkartenmotiv im Dritten Reich [1], [9].

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Abb. 2 Originalpostkarte von 1935 „Deutsche Jugend begrüßt den Führer“, aufgenommen von Heinrich Hoffmann, dem Leibfotografen Hitlers. Die Martius-Kinder befanden sich zufällig in einer Zuschauermenge, als Hitlers Wagen anhielt, und wurden zum Foto „ausgewählt“ (aus [1], [9]).

Die nationalsozialistische Herrschaft griff neben der existenziellen Verunsicherung brutal in die Familie Martius ein: Wie schon im Ersten Weltkrieg die 2 Brüder Friedrich Franz (1914, Lüttich) und Leonhard (1915, Russland) von Martius „vor dem Feind“ fielen, so fielen nun seine Söhne Hans-Joachim (1920–1942, Stalingrad/Russland) und Friedrich (1922–1944, Beskiden) an den Fronten des Zweiten Weltkriegs. Gerhard Martius (1924–1998) konnte das Medizinstudium noch beginnen, wurde dann aber als Sanitätsdienstgrad zur Luftwaffe eingezogen und Teilnehmer der berüchtigten Schlacht um Monte Cassino. Er wurde ebenfalls Frauenarzt und leitete 1967–1988 die Frauenklinik im Martin-Luther-Krankenhaus Berlin ([Abb. 3]). Heinrich Martius und seine Familie wurden seinerzeit mehrfach in Göttingen antisemitisch angefeindet. Mehrere Berufungen (u. a. nach Zürich 1934 und Berlin 1944/Nachfolge Walter Stoeckel) zerschlugen sich aus politischen Gründen, wobei die „Abstammungsangelegenheit“ (Stoeckel) auch eine Rolle spielte. In Martius ärztlichen Leben gab es reichlich Licht, doch auch Schatten: wie damals Gesetz wurden an der Klinik Zwangssterilisationen vorgenommen [1].

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Abb. 3 Wie der Vater so der Sohn: Widmung von Heinrich Martius an den Sohn Gerhard, den späteren Professor und Chefarzt der Frauenklinik im Berliner Martin-Luther-Krankenhaus, in der 6. Auflage des Lehrbuchs der Geburtshilfe (aus [9]).

Die Göttinger Klinik blieb Martiusʼ Schicksal [10], obwohl er nach Kriegsende noch Rufe nach Heidelberg, Freiburg, Tübingen, ein 2. Mal nach Berlin (erneut Nachfolge Stoeckel) und an die (fast) unzerstörte Münchener Universitätsfrauenklinik erhielt.

In Göttingen schrieb er seine berühmten Lehrbücher [11], [12], [13], [14], [15], [16], [17], [18]. So wie Göttingen Martius einen Lebensmittelpunkt bot, so setzte sich auch Martius für Göttingen ein: Gemeinsam mit dem Chirurgen Rudolf Stich soll Heinrich Martius in einem mit einer weißer Fahne bestückten Auto den amerikanischen Truppen entgegen gefahren sein, um sie über die Situation in der Stadt zu informieren und möglichst vom Sturm auf Göttingen abzuhalten. Die Universitätsstadt fiel dann am 8. April 1945 auch ohne wesentliche Kampfhandlungen in amerikanische Hände [19].

Nach dem Krieg wurde Martius Präsident und Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) sowie der Norddeutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Er war lange Jahre das Gesicht der deutschen Frauenheilkunde im Ausland, so z. B. im Executive Board der FIGO [20].

 
  • Literatur

  • 1 Martius G-A. Auch das geschah in Deutschland: Martius zum Beispiel. Blätter zur Geschichte der Familie Martius Heft 17. Genealogie – Deutsche Zeitschrift für Familienkunde 2003; 26: 2-84
  • 2 Martius H. Zur Auswahl der Harnfistel- und Inkontinenzoperationen. Zentralbl Gynäkol 1942; 66: 1250-1256
  • 3 Kirchhoff H, Polaczek R. Gynäkologen deutscher Sprache. 3. Aufl.. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1960: 319-321
  • 4 Ebert AD, David M. Die deutschen Gynäkologen und der Erste Weltkrieg. Geburtsh Frauenheilk 2014; 74: 829-834
  • 5 Personalverzeichnis für das Winterhalbjahr 1922/23 und Vorlesungsverzeichnis für das Sommerhalbjahr 1923 der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität zu Bonn. Bonner Universitäts-Buchdruckerei Gebr. Scheur, S. 12.
  • 6 Stoeckel W, Michelsson F. Deutsches Gynäkologen Verzeichnis. 2. Aufl.. Leipzig: Johann Ambrosius Barth Verlag; 1939: 304-307
  • 7 Klee E. Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag GmbH; 2003: 393
  • 8 Ebert AD. Jüdische Hochschullehrer an preußischen Universitäten 1870 – 1924. Eine quantitative Untersuchung mit biografischen Skizzen. Frankfurt/M.: Mabuse Verlag; 2008
  • 9 Medizinhistorische Sammlung Prof. Ebert.
  • 10 Martius H. Die Universitäts-Frauenklinik in Göttingen von ihrer Gründung im Jahre 1751 als Accoucierhospital am Geismartor bis zum Jahre 1951. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1951: 17
  • 11 Martius H. Die geburtshilflichen Operationen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1934
  • 12 Martius H. Die gynäkologischen Operationen. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1937
  • 13 Martius H. Die Kreuzschmerzen der Frau. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1939
  • 14 Martius H. Lehrbuch der Gynäkologie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1946
  • 15 Martius H. Lehrbuch der Geburtshilfe. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1948
  • 16 Martius H. Grundlagen der Gynäkologie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1950
  • 17 Martius H. Das kleine Frauenbuch. München: Goldmann Verlag; 1958
  • 18 Martius H. Atlas der gynäkologischen Anatomie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 1960
  • 19 Trittel K, Marg S, Pülm B. Weißkittel und Braunhemd: Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag; 2014: 30-31
  • 20 Ludwig H. Heinrich Martius (1885–1965). Gynäkologe 2010; 43: 68-72