PPH 2015; 21(04): 211-212
DOI: 10.1055/s-0035-1558638
Rezensionen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Sie gelesen: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

Rezensent(en):
Christoph Müller
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Juli 2015 (online)

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(Foto: Thieme Verlag)

Was kann, was soll ein Lehrbuch zur Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie leisten? Mit dieser Fragestellung macht man sich immer wieder an die Arbeit, wenn ein neues Lehrbuch vor einem liegt. Grundsätzlich sollte es natürlich solide Grundlagen liefern für denjenigen, der das Fachgebiet neu betritt oder für denjenigen, der ein Thema in seiner täglichen Arbeit etwas abseits hat liegen lassen. Es sollte aber immer auch die Möglichkeit zu einem Update bieten, wie es neudeutsch heißt.

Das Lehrbuch „Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie“, das Hans-Jürgen Möller, Gerd Laux und Arno Deister nun in der fünften Auflage vorlegen, bietet diese Gelegenheit. Es ist ein Lehrbuch, das eine starke medizinische Ausrichtung hat, etwas weniger die Psychotherapie akzentuiert und nur wenig auf die Interdisziplinarität setzt. Ob ein solches Lehrbuch diesen Auftrag jedoch erfüllen muss, sei dahingestellt. Schließlich erscheint es im Orchester der Disziplinen auch als Bereicherung, wenn die einzelnen Berufsgruppen auf den eigenen Instrumenten spielen.

Es wirkt vielmehr erfrischend, dass das Lehrbuch für die medizinische Wissenschaft die Terminologie an die gegenwärtigen Gegebenheiten anpasst. So unterstreichen die Autoren unter anderem, dass ein psychiatrisches Gespräch „mit besonderer Feinfühligkeit und Behutsamkeit geführt werden“ müsse. Oder wenige Zeilen später schreiben sie: „Trotz dieser durch Gespräch und Verhaltensbeobachtung gegebenen Besonderheiten darf nicht vergessen werden, dass die Psychiatrie ein Teil der Medizin ist. Sie als reines Psychofach zu klassifizieren, wäre ein völliges Missverständnis. Das Besondere der Psychiatrie liegt darin, dass mögliche körperliche und seelische Ursachen für psychische Veränderungen in gleichem Maße Berücksichtigung finden.“

Für den psychiatrisch Pflegenden erscheinen solche Worte beziehungsweise eine solche Haltung inzwischen als Selbstverständlichkeit. Dies führt hoffentlich zu einem besseren gemeinsamen Begleitungsprozess von psychisch veränderten Menschen, aber auch zu einem glücklicheren Miteinander professionell Tätiger im psychiatrischen Handlungsfeld.

Gestalterisch ist das Lehrbuch eine gelungene Komposition. Denn die Autoren und Editoren vermögen es, für Abwechslung zu sorgen, ohne inhaltlich Schwächen zu zeigen. Die Textabschnitte sind nicht nur gut verständlich, sondern auch verdaulich portioniert. Grafiken und Checklisten kommen immer wieder an passenden Stellen.

Sehr gründlich haben die Autoren die psychiatrischen Phänomene überarbeitet. Aufhorchen lässt das Kapitel „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“. In diesem Kontext wird offensichtlich, wie sehr im Alltag psychiatrische Phänomene präsent sind. Man wünscht sich bei diesem Kapitel sogar mehr Ausführlichkeit, um dem Phänomen im eigenen Erfahrungsfeld anders begegnen zu können. Es wird klar, dass die Beherrschung eines Wunsches oder Antriebs versagt. Es wird deutlich, dass keine eigenständige psychische Störung vorliegt. Was man sich mehr wünscht, ist jedoch das Eintauchen in die Dynamik eines solchen Phänomens.

Im Kontext der allgemeinen Psychopathologie wird deutlich, wie entscheidend die Erhebung des psychischen Befunds ist. Offenbar aus der praktischen Erfahrung heraus schreiben die Autoren: „Zu beachten ist, dass nicht nur eine Reihe von psychopathologischen Fachtermini aufgezählt und jeweils angegeben wird, ob diese gar nicht, in leichter, mittlerer oder starker Form vorliegen. Es muss ein plastisches Bild vom aktuellen psychischen Zustand des Patienten erstellt werden.“

Wer diese Worte ernst nimmt, der muss quasi einen Film vor seinen Augen erblicken können. Ob dies ein hoher Anspruch ist, mag der Leser für sich beurteilen. Wem die Begleitung seelisch veränderter Menschen am Herzen liegt, wer sein Herzblut dort lässt, der wird sich mit einem funktionalen Verständnis psychiatrischen Arbeitens nicht zufrieden geben.

Beim aufmerksamen Lesen des Lehrbuchs wird deutlich, dass der einseitige Blick auf die Psychiatrie der Vergangenheit anzugehören scheint. Möller, Laux und Deister beschäftigen sich mit sozialen Aspekten genauso wie mit den biologischen Leitbildern der Psychiatrie. Sie schauen aus der medizinischen Wissenschaft genauso auf die psychiatrischen Krankheiten, wie sie auch für die Annäherung an den Patienten zu plädieren scheinen. Sie geben der Psychopharmakotherapie genauso eine Berechtigung wie der Psychotherapie.

Fazit: In meinem Regal wird das Lehrbuch sicher nicht verstauben. Zuviel Freude habe ich selber bei der Lektüre gehabt und werde dieses Kompendium auch nutzen, wenn in der pflegerischen Praxis eine State-of-the-art-Abfrage vonnöten erscheint.

Christoph Müller