Der Klinikarzt 2015; 44(07/08): 321
DOI: 10.1055/s-0035-1564272
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stehen wir vor einer Revolution im Labor?

Achim Weizel
Winfried März
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Publication Date:
25 August 2015 (online)

Hunderte Laboruntersuchungen aus einem Tropfen Blut! Keine Blutentnahme aus der Vene sondern aus der Fingerbeere! Deutliche Reduktion der Laborkosten! Mit derartigen Schlagworten macht die kalifornische Firma Theranos seit etwa einem Jahr Furore, allerdings weniger in wissenschaftlichen Foren, sondern in Publikumszeitschriften [1]. Im Wall Street Journal, in Fortune, Forbes und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird die Geschichte der Firma ausführlich beschrieben. Man erfährt, dass die charismatische Firmengründerin Elizabeth Holmes ihr Studium an der Stanford University abbrach und mit Unterstützung ihres Professors und weiterer Kapitalgeber eine Firma gründete, deren Wert jetzt mit 9 Milliarden Euro angegeben wird. Elisabeth Holmes soll damit die jüngste Milliardärin Amerikas sein.

Während auf vielen Gebieten der Medizin (z.B. minimalinvasive Chirurgie, Endoskopie) geradezu rasante Fortschritte erzielt wurden, ist es auf dem Laborsektor, vielleicht abgesehen von der Gendiagnostik, bisher relativ ruhig geblieben. Das ist überraschend, denn das Labor nimmt eine zentrale Stellung ein. Zwei Drittel der medizinischen Diagnosen bedienen sich der Ergebnisse von Laboruntersuchungen. Der Erfolg therapeutischer Maßnahmen wird durch Laborwerte kontrolliert. Das klinische Labor ist idealerweise ein Transmissionsriemen zwischen den angewandten Biowissenschaften und der klinischen Medizin. So sind Labor und Laborärzte wesentliche Stützen des Gesundheitssystems. Sie liefern Analysen professionell, standardisiert, geräuschlos und kostengünstig. Durch Konzentration in Großlabors, weitgehende Mechanisierung und Druck der Kostenträger sind die Kosten des Labors in den letzten Jahren eher gesunken, trotz des großen Volumens verursacht die in-vitro-Diagnostik nur etwa 3 % aller Gesundheitskosten.

Traditionell erfolgt die Laboranalyse in den meisten Fällen aus Venenblut. Daneben haben sogenannte Point-of-Care-Untersuchungen mit Entnahme des Blutes aus der Fingerbeere in Klinik und Praxis an Wichtigkeit gewonnen (z. B. Blutzucker- und Cholesterinbestimmungen). Aufwendige Untersuchungen wie Hormonbestimmungen sind bisher mit diesen Methoden kaum durchführbar.

Warum erregen die Aussagen der Firma Theranos so viel Aufsehen? Die Firma bedient sich einer als „revolutionär“ bezeichneten Technik. Ein paar Blutstropfen aus der Fingerbeere kommen in eine „Black Box“ und wenig später landen Messwerte in einer elektronischen Patientenakte und mobilen Endgeräten. Aus dieser geringen Blutmenge können nach Angaben der Firma praktisch sofort bis zu 300 Laborwerte bestimmt werden. Amerikas umsatzstärkste Drogeriekette Walgren hat inzwischen diese Laboruntersuchungen ins Portfolio aufgenommen und damit praktisch jedermann – auch ohne ärztliche Verordnung – zugänglich gemacht.

Unbestritten kann die patientennahe Laboruntersuchung ein Segen für den Patienten sein und werden: Bei der Abklärung von Notfällen, bei der Selbstmessung des Blutzuckers, der Überprüfung der Antikoagulation und der Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern. Es ist aus diesem Grund auch verständlich, dass solche Technologien entwickelt werden. Voraussetzung für ihre Anwendung ist aber, dass sie den üblichen Qualitätsstandards an stationäre Messgeräte genügen.

Mehrere Fragen stellen sich bei Theranos: Bisher erscheinen weder für Ärzte noch für Patienten Qualitätskontrollen möglich. In keiner einzigen einschlägigen Fachzeitschrift findet sich eine Beschreibung der Technik, die deren Beurteilung ermöglicht – und das, obwohl es die Firma seit 10 Jahren gibt. Die 71 Patente der Firma sind kaum beurteilbar. Ob und wie die von Theranos gelieferten Werte mit denen standardisierter Methoden übereinstimmen, ist nicht zu eruieren [1].

Bei Theranos entscheidet der Patient über Art und Umfang der Untersuchung, dann wird er mit seinen Laborwerten alleine gelassen. Das Wort Labormedizin beinhaltet aber auch den Begriff Medizin, bei einer Vermarktung über Apotheken oder Drogerien, insbesondere wenn differenzierte Parameter bestimmt werden, fehlt jegliche klinische Validierung.

Selbst wenn das Laborergebnis jetzt schneller vorliegt als früher, selbst wenn die einzelne Analyse etwas weniger kosten wird als heute: Eines kann Theranos nicht, nämlich den Befund in den Hintergrund der klinischen Fragestellung einordnen. Und damit entsteht ein großes Konfliktpotenzial. Es besteht die Gefahr, dass im Gefolge der selbstverordneten Laboruntersuchungen von den Patienten weitere aufwendigere und wahrscheinlich in vielen Fällen überflüssige Untersuchungen veranlasst werden. Die damit verbundenen Kosten und Risiken (auch für und bei Folgeuntersuchungen) wird nicht Theranos, sondern der Patient oder die Solidargemeinschaft tragen. Hinzu kommt noch ein psychologischer Faktor. Für viele Patienten ist eine schmerzlose Blutentnahme aus der Vene wesentlich weniger belastend als die Entnahme aus der Fingerbeere, an die sich Patienten teilweise noch tagelang durch Schmerzen bei Berührung erinnern. Trotzdem sollte man die Entwicklung ernst nehmen und genau beobachten, vielleicht geht die Entwicklung ja in diese Richtung. Den Zukunftsphantasien sind hier keine Grenzen gesetzt. In einem Kommentar wird die Entwicklung noch weiter gesponnen. Der nächste Schritt wäre dann die direkte Analyse der Laborwerte durch das Mobilphone. Auf diesem Gerät werden ja heute schon Vitalparameter erfasst, warum dann nicht auch Laborwerte?

 
  • Literatur

  • 1 Ioannidis JP. Stealth research: is biomedical innovation happening outside the peer-reviewed literature?. JAMA 2015; 31: 663-664