manuelletherapie 2015; 19(05): 229-235
DOI: 10.1055/s-0035-1570016
Originalia
Expertenmeinung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Physiotherapie in der Praxis: Ohne Theorie geht es nicht [1]

Bedeutung der Dissonanz- und Konsonanztheorie für die SchmerzkognitionPhysiotherapy in Practice: It Cannot Work without ItRelevance of the Dissonance and Consonance Theory for Pain Cognition
Rob A.B. Oostendorp
1   Radboud Universitair Medisch Centrum, Radboud University Medical Centre, Nijmegen; Vrije Universiteit Brussel, Belgium
2   Kasteellaan 104; 6602 DK Wijchen, The Netherlands
,
H. Samwel
3   Radboud Universitair Medisch Centrum, Radboud University Medical Centre, Nijmegen; Vrije Universiteit Brussel, Belgium
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Publikationsverlauf

10. Mai 2015

14. Mai 2015

Publikationsdatum:
18. Dezember 2015 (online)

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Zusammenfassung

Patienten mit (chronischen) Schmerzen befolgen häufig nur unzureichend Anweisungen, die darauf abzielen, dass sie (weiter) ihre Übungen machen und körperlich aktiv bleiben oder aktiver werden. Dies kann eine negative Wirkung auf die Behandlungseffektivität haben. Bis heute findet sich in der Fachliteratur keine überzeugende Erklärung für dieses unzureichende Befolgen von Behandlungsanweisungen.

Dieser Artikel sucht eine mögliche theoretische Erklärung in der kognitiven Dissonanztheorie. Sie zeigt, dass die Kommunikation zwischen Physiotherapeuten und Patienten zu fortbestehenden Beschwerden führen kann. Viele Patienten mit chronischen Schmerzen haben Angst vor Schmerzen und neigen dazu, schmerzauslösende Übungen und Aktivitäten zu vermeiden. Das bedeutet, sie vernachlässigen auch schmerzauslösende Anweisungen zu Übungen, die sie außerhalb der Behandlungssitzungen durchführen sollen. Im Kontakt mit den Physiotherapeuten suchen sie nach Signalen, die es ihnen erlauben, das Vermeiden von Übungen und körperlichen Aktivitäten zu legitimieren.

Physiotherapeuten haben häufig selbst mehr oder weniger Angst davor, bei ihren Patienten Schmerzen auszulösen. Daher geben sie in der Kommunikation mit den Patienten – oft unbewusst – ihre Angstkognitionen in Form von verbalen, para- und nonverbalen Signalen an diese weiter. Die Patienten interpretieren sie dann wiederum als Legitimierung für ihr Vermeidungsverhalten. Dies geschieht z. B., indem die Physiotherapeuten einfühlend auf eine Schmerzzunahme reagieren und diese Reaktionen als empathisch und damit therapeutisch sinnvoll und gerechtfertigt interpretieren. Die Patienten dagegen sehen in ihnen eine Bestätigung ihrer eigenen Angst vor Schmerzen und damit eine Rechtfertigung für ihr Vermeidungsverhalten. Das Zusammenwirken und Verstärken der Angstkognitionen von Therapeuten und Patienten wird als iatrogene Symbiose bezeichnet.

Die Vermeidung einer solchen iatrogenen Symbiose und damit einhergehend die Verbesserung der Bereitschaft der Patienten, sich an Anweisungen zu halten, lässt sich durch konsequentes verbales als auch para- und/oder nonverbales Ignorieren von Schmerzsignalen der Patienten vermeiden. Im Kontext des Verhältnisses zwischen Therapeuten und Patienten muss „empathisches Handeln“ deshalb als professionelle Fähigkeit zu handeln im Einklang mit langfristigen Behandlungszielen definiert werden. Auf diese Weise kann das Erkennen einer möglichen iatrogenen Symbiose als „Sprungbrett“ zu einem optimalen Behandlungsergebnis dienen.

Abstract

Patients with (chronic) pain are often limited in following the advice to (continue to) exercise and remain physically active. This may have a negative impact on treatment outcomes. However, to date in literature no valid explanation for this limited adherence has been presented.

A possible theoretical explanation may to be found in the cognitive dissonance theory. This theory shows that communication between therapist and patient may maintain complaints. Many patients with chronic pain suffer from pain-related fear and tend to avoid pain-inducing exercises and activities, including pain-inducing instructions for practice outside the therapy session. In contact with the physical therapist, the patient experiences signals which may serve as a legitimation to avoid the exercises and physical activities.

Physiotherapists themselves are often more or less anxious to induce pain. In their communication with their patients, they may – often unconsciously – express their own fear cognitions in form of verbal, para- and non-verbal signals to the patient. Although the therapists may see these signals as expressions of empathy and thus therapeutic, the patients may interpret these signals as a justification of their own fear of pain and accordingly as a justification of their avoidance behaviour. This concurrence in and corroboration of each other’s fear cognitions is termed iatrogenic symbiosis.

Preventing iatrogenic symbiosis and thus increasing the adherence of patients can be achieved by consistently ignoring pain signals from the patient, both verbally and para-and/or non-verbal. Empathic acting within the therapeutic relationship should therefore be defined as professional ability to act consistently with achieving the treatment goals in the longer term. In this way, being aware of iatrogenic symbiosis may act as a springboard towards an optimal treatment outcome.

1 Der niederländische Originalartikel „Praktijk fysiotherapie kan niet zonder theorie. Betekenis van de dis- en consonantietheorie voor de cognitie van pijn“ ist erschienen in: fw fysiotherapie & Wetenschap. 14.11.2014. www.fysiotherapiewetenschap.com/expert/25/a-praktijk-fysiotherapie-kan-niet-zonder-theorie-betekenis-van-de-dis--en-consonantietheorie-voor-de-cognitie-van-pijn