Geburtshilfe Frauenheilkd 2017; 77(02): 192-200
DOI: 10.1055/s-0036-1597742
Abstracts
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erinnerungsort Krebsbaracke. Klarstellungen um das erste interdisziplinäre Krebsforschungsinstitut in Deutschland (Berlin, Charité)

P Voswinckel
1   Archiv und Historische Forschungsstelle, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, Berlin
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
06 March 2017 (online)

 

Selten ist der Schrecken vergangener Zeiten in Bezug auf das inoperable Zervixkarzinom eindringlicher festgehalten als in Gottfried Benns Gedicht „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“ (1912). Viel zu wenig bekannt ist, dass es ein ganz konkreter, realer Ort war, den Benn hier beschrieben und als junger Unterarzt an der Charité 1911 mit Sicherheit kennengelernt hat, nämlich die 1903 für den Internisten Ernst von Leyden errichteten „Krebsbaracken“, aus denen das erste interdisziplinäre Krebsinstitut in Deutschland erwuchs. Es bestand zunächst aus drei Baracken: einem Laboratoriumsbau und je einer Männer- und Frauenbaracke mit je 10 Betten; später kamen Spezialabteilungen in anderen Gebäuden der Charité hinzu (z.B. für Strahlentherapie 1916). Standen in den Anfangsjahren palliative Maßnahmen im Vordergrund (Schmerzbehandlung und Sedativa; Suche nach Desodorantien gegen den penetranten Gestank der jauchig zerfallenden Geschwüre), so wurden frühzeitig auch neue Wege der Therapie ausprobiert. Ein früher Bericht von 1903 (!) nennt die Anwendung von Radium bei fortgeschrittenem Mamma-Ca. (Caspari; Blumenthal). Die Hoffnung, den Krebs mit Gabe von inneren Pharmazeutika (u.a. Selen, Organextrakte) beeinflussen zu können, sollte sich nicht bestätigen. Trotzdem erlangte das kleine Institut unter der langjährigen Leitung von Prof. Ferdinand Blumenthal bis 1933 einen weltweiten Bekanntheitsgrad, wie die Analyse der internationale Kongresse eindrücklich beweist. Wegen seiner überwiegend jüdischen Mitarbeiter wurde das Institut im Nationalsozialismus weitgehend zerschlagen und dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch unterstellt (aufgelöst 1945). Nach dem Krieg fristeten die Baracken in der DDR ein kümmerliches Dasein als FDJ-Büro, Krankenblattarchiv und Patientenbibliothek und lagen spätestens seit 1961 im unmittelbaren Sperrbezirk der Mauer. Nach der Wende erfolgte ihr Abriss zugunsten des Neubaus des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie – unbemerkt von jeder Öffentlichkeit. Während in Westdeutschland die Benn'sche Krebsbaracke unzählige Künstler, Musiker, Maler (u.a. Georg Baselitz!) und Literaten inspirierte, war die Erinnerung an das historische Krebsinstitut und dessen einst renommierten Pioniere im Dunkeln des Verschweigens und Vergessens ausgelöscht. Ein Forschungsprojekt der DGHO (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie) dokumentierte jüngst die spannungsreiche Geschichte dieses Institutes und die Schicksale seiner vertriebenen Ärztinnen und Ärzte (insgesamt 28), wobei die lebendigen Kontakte zu Enkeln und Urenkeln als Modell einer sinnvollen Erinnerungsarbeit vorgestellt werden. (Das Buch „Erinnerungsort Krebsbaracke“ ist kostenlos zu beziehen im Hauptstadtbüro der DGHO (Bestellformular auf www.dgho.de)).