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DOI: 10.1055/s-0038-1627342
Brücken zwischen „Hallescher Psychomedizin“ und Psychiatrie
„… ich will es… nicht rathen, daß Sie mit Ihren Patienten wie mit einer blossen Maschine… umgehen“ Ernst Anton Nicolai (1722–1802)Bridges between the „psycho-medicine“ conceptualised in Halle and psychiatryPublication History
Eingegangen am:
17 September 2008
angenommen am:
25 February 2008
Publication Date:
22 January 2018 (online)
Zusammenfassung
Die „Hallesche Psychomedizin“ entstand durch die Auseinandersetzung der medizinischen Systeme Georg Ernst Stahls und Friedrich Hoffmanns. In deren Folge fand ein Wechsel vom System- zum empirischen Denken statt. Die rein physische Betrachtungsweise in der Medizin wurde zunehmend aufgegeben, was zu einer neuen, spezifisch-individuellen Wahrnehmung des Menschen führte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war in Halle an der Saale eine Medizinergeneration herangewachsen, die sich vornehmlich mit psychophysischen Fragestellungen auseinandersetzte. Dies führte zur Beschäftigung mit den niederen Erkenntnisvermögen des Menschen, zur Abwertung der Vernunft und Aufwertung der Sinne, Triebkräfte, Leidenschaften, Stimmungen und Affekte sowie ihrer Beziehungen zueinander. Diese Affektenlehre und die daraus resultierenden therapeutischen Möglichkeiten bei psychischen, aber auch somatischen Erkrankungen übten einen großen Einfluss auf die frühen Psychiater, insbesondere auf die Gruppe der „Psychiker“, aus. Zudem kann man von einer mittelbaren Wirkung für die gesamte Psychiatrie sprechen. Die durch die „Hallesche Psychomedizin“ verstärkt stattfindende Hinwendung zu den Affekten führte zur Betonung der Rolle der Triebkräfte, die durch den Willen, gar durch einen krankhaft affizierten, nicht immer kontrollierbar waren. Psychische Erkrankungen wurden in der Folge nicht mehr allein als Störungen des Verstandes aufgefasst. Die „Entdeckung“ der Willensstörungen war für die Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts von enormer Bedeutung.
Summary
„Halle psycho-medicine“ emerged from the dispute between the medical concepts forwarded by Georg Ernst Stahls on the one hand and Friedrich Hoffmann on the other. One consequence was that systematic thinking was substituted by an empiric approach, in the course of which the patient (and medicine) were no longer regarded from a physical point of view only, leading to a specific and very individualised approach in medicine. At around the mid-18th century a new generation of doctors at Halle University began investigating psychophysical questions. In particular they analysed lower human cognitive facilities, which led them to devaluate reason and revaluate human sensations, driving forces, passions, mood, emotions and the interrelations between them. Their theories on human emotions and the therapeutic conclusions they drew had a lasting impact upon the early psychiatrists, in particular upon the followers of the so-called psychicist school, and hence, one can assume, on psychiatry as a whole. „Halle psycho-medicine‘s“ focus on emotions implied particular emphasis on the role of the driving forces, which could not always be wilfully controlled, even less so by the pathologically affected will. Hence mental illnesses were not exclusively regarded as disturbances of reason; the „discovery“ of affective disorders was of major importance for 19th- and early-20th-century psychiatry.
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