Kinder- und Jugendmedizin 2019; 19(02): 127-128
DOI: 10.1055/s-0039-1684071
Fallvorstellungen der Gewinner der Reisestipendien
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom myelodysplastischen Syndrom zur Diagnose eines seltenen DNA-Doppelstrangbruch-Reparaturdefektes (NHEJ1-Defizienz)

F Poyer
1   Medizinische Universität Wien, St.-Anna-Kinderspital, Hämato-Onkologie, Wien, Österreich
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Publication Date:
17 April 2019 (online)

 

Doppelstrangbrüche zählen zu den toxischsten DNA Läsionen. In der T- und B-Zellentwicklung sowie in der Entstehung des vielfältigen Antikörper-Repertoires sind Doppelstrangbrüche allerdings unabdingbar. Doppelstrangbrüche werden durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren (am bekanntesten sind Artemis und DNA Ligase IV) repariert. 2006 wurde mit ‚Nonhomologous end-joining 1 factor‘ (Aliases: Cernunnos, XRCC4-like factor (XLF)) kodiert durch das NHEJ1-Gen, eine weitere Komponente des DNA-Doppelstrangbruch-Reparatursystems entdeckt. NHEJ1-Defizienz führt ebenfalls zu einem radiosensitiven Immundefekt unterschiedlicher Ausprägung, begleitet von Mikrozephalie, Wachstumsretardierung, autoimmunologischen Phänomenen sowie einem vorzeitigen Altern hämatopoietischer Stammzellen mit einem erhöhten Risiko für Malignome. Malignome oder myelodysplastische Syndrome (MDS) wurden bis dato aber bei keinem der bisher 30 publizierten Patienten beobachtet. Bei einem Patienten war eine Knochenmarksaplasie beschrieben, welche erfolgreich mit einer allogenen hämatopoietischen Stammzelltransplantation (HSCT) behandelt worden ist.

Wir berichten über einen jetzt 22-jährigen männlichen Patienten, welcher im Alter von 5 Jahren (2001) mit rezidivierenden pulmonalen Infekten, einer milden/mäßigen Panzytopenie, Mikrozephalie mit Fanconi-Anämie (FA) ähnlicher Fazies, Klinodaktylie und Wachstumsretardierung an unserer Klinik vorstellig wurde. Via Diepoxybutan (DEB) Test und genetischen Analysen konnten eine FA und ein Nijemengen-breakage-Syndrom ausgeschlossen werden. Die Knochenmarksbiopsie zeigte ein hypozelluläres Knochenmark (KM) mit Dysplasiezeichen der Erythro- und Megakaryopoese – im Sinne einer ‚refractory cytopenia of childhood‘ (RCC). In der FISH-Analyse zeigten 18% der Interphase-Kerne eine Monosomie 7 (prämaligner Klon). Somit wurde die Indikation zur allogenen hämatopoietischen Stammzelltransplantation gestellt, die Spendersuche blieb jedoch erfolglos. Interessanterweise stabilisierte sich das Blutbild zunehmend, in wiederholten Knochenmarkspunktionen war der Monosomie-7-positive Klon nicht mehr nachweisbar, stattdessen zeigte sich ein Klon mit einer Deletion von 20q12 (assoziiert mit einer guten Prognose); Dysplasiezeichen verschwanden ebenso. Im Verlauf persistierte eine milde Panzytopenie. Der Patient hatte keine nennenswerten Infekte. Mittels unseres auf Next-Generation-Sequencing (NGS) basierenden Hämatologie-Panels, in welchem 292 Kandidatengene systematisch sequenziert werden, konnten wir im Alter von 21 Jahren eine davor nicht beschriebene Mutation im NHEJ1-Gen nachweisen und in heterozygoter Form auch bei den konsanguinen Eltern diagnostizieren.

Dieser Patient ist der erste mit NHEJ1-Defizienz und MDS. Insbesondere das spontane Ersetzen eines Monosomie-7-positiven Klons durch einen del20q12-positiven Klon ist bemerkenswert. Zudem ist dies erst der zweite dokumentierte Patient mit NHEJ1-Defizienz, der ohne HSCT das Erwachsenenalter erreicht hat. Dieser Fall zeigt wie wichtig bei unklarer Ursache einer hämatologischen Zytopenie eine erweiterte genetische Diagnostik (z.B. Paneldiagnostik, oder wenn damit keine Diagnosefindung möglich ist eine Exomanalyse (WES) oder andere auf NGS basierende Untersuchung) ist, um eine korrekte Diagnose zu stellen und die Betreuung und Therapie entsprechend anzupassen.