Kinder- und Jugendmedizin 2019; 19(02): 131
DOI: 10.1055/s-0039-1684085
Seltene Hämoglobinopathien
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hämoglobinvarianten mit erhöhter Sauerstoffaffinität

H Cario
1   Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Bereich Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Ulm
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Publication Date:
17 April 2019 (online)

 

Die erste Hämoglobinvariante mit erhöhter Sauerstoffaffinität wurde vor mehr als 50 Jahren beschrieben. Das sogenannte Hämoglobin Chesapeake beruht auf dem Austausch von Arginin gegen Lysin an Position 92 der alpha-Globinkette. Diese Beschreibung zunächst bei einem 81-jährigen Patienten, später bei 15 Angehörigen mit unerklärt hohem Hämoglobingehalt, war zugleich die Erstbeschreibung einer genetisch bedingten, familiären Erythrozytose.

Seither wurden mehr als 200 Hb-Varianten mit erhöhter O2-Affinität beschrieben, von denen nur etwa ein Drittel zu einer kompensatorischen Erythrozytose führt. Die betroffene Globinkette, das Ausmaß der 02-Affinitätsveränderung, die noch erhaltene Interaktion zwischen den Hb-Untereinheiten, die Stabilität des veränderten Hb oder die Ko-Vererbung einer thalassämischen Veränderung sind für die Ausprägung der sekundären Veränderungen, insbesondere der kompensatorischen Erythrozytose, von Bedeutung.

Die Diagnosestellung beruht heute bei entsprechendem Verdacht aufgrund des Vorliegens einer Erythrozytose zunächst auf dem Nachweis des erniedrigten P50, d.h. des O2-Partialdruckes, bei dem 50% des Hb gesättigt sind. Dieser wird in der Praxis meist auf der Basis einer venösen BGA ermittelt, da die für die direkte Bestimmung notwendige biochemische Analytik aufwändig und nur noch an wenigen Stellen verfügbar ist. Die Identifikation entsprechender pathologischer Hb-Varianten mittels konventioneller Techniken der Hämoglobinanalyse (Hb-Elektrophorese, IEF, HPLC) kann schwierig sein, wenn der Aminosäureaustausch nicht zu wesentlichen Veränderungen in Größe der Hb-Variante, Ladung u.ä. führt.

Klinische Probleme, in der Regel Hyperviskositätssymptome oder thrombotische Ereignisse, infolge der kompensatorischen Erythrozytose sind selten. In diesen Fällen kann eine Phlebotomie Linderung schaffen. Ziel einer solchen Aderlasstherapie ist ein Hämatokrit in einem Bereich, der niedrig genug ist, um Komplikationen der Erythrozytose zu verhindern, aber zugleich hoch genug, um einen anaeroben Stoffwechsel bei (moderater) Anstrengung vermeiden zu können. Dieser Zielhämatokrit wird meist mit etwa 50% angegeben, ist aber individuell zu ermitteln. In sehr schweren Fällen (extrem selten) kann eine Austauschtransfusion notwendig und hilfreich sein.