PSYCH up2date 2015; 9(02): 65
DOI: 10.1055/s-0041-100216
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Was können Biomarker heute leisten? Über den Einsatz von Biomarkern in der psychiatrischen Diagnostik am Beispiel der ADHS

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Publication Date:
20 March 2015 (online)

Die klinische Diagnostik in der Psychiatrie und die Klassifizierungssysteme DSM-5 [1] und ICD-10 [2] werden immer wieder kritisiert, da sie abhängig sind von subjektiv getönten Einschätzungen und keine ausreichend zuverlässigen und validen Diagnosen zulassen. Das NIMH verfolgt seit 2009 ein neues Klassifizierungssystem (RDoC: Research Domain Criteria), welches Informationen aus der Genetik, Bildgebung und Neuropsychologie mit Verhaltensmaßen integriert. Dieser Ansatz weist darauf hin, dass der Einbezug von Biomarkern bei der Diagnosestellung valider sein könnte, um komplexe psychische Erkrankungen wie beispielsweise ADHS zu klassifizieren. Aber das ist Zukunftsmusik und hat trotz intensiver Diskussionen keinen Eingang ins DSM-5 gefunden. Wo stehen wir heute mit den Biomarkern in der Psychiatrie? Biomarker sind messbare und charakteristische Parameter, die biologische Prozesse abbilden. Sie sollen für klinische Vorhersagen wie Prognose, Rückfallrisiko, Ansprechen auf ein Medikament und Nebenwirkungen verwendet werden [3]. Diskussionen um Biomarker sind oft vom Missverständnis geprägt, dass statistische Gruppenzusammenhänge auch individuell zuverlässig und klinisch bedeutsam sind. Da nach heutigem Kenntnisstand ein einzelner Biomarker nicht für eine zuverlässige Diagnose einer komplexen psychischen Störung ausreicht, geht der Trend in der Psychiatrie dahin, dass man stattdessen eine Reihe von Biomarkern identifiziert. Es gibt einige vielversprechende Biomarker, die zwar alleine betrachtet nicht für eine frühzeitige Diagnose oder Prognoseeinschätzung ausreichen, allerdings in Kombination eingesetzt bei ADHS möglicherweise Anwendung finden könnten. Sehr ähnlich sieht es auch für andere psychiatrische Störungsbilder aus, es gibt jedoch für kein Störungsbild eine routinemäßige Anwendung.

Was spricht für Biomarker, außer, dass wir unser klinisches Urteil besser durch biologische Parameter abstützen wollen? Je höher die Vererbbarkeit (bei ADHS und Autismus sind dies zwischen 70 und 90 %), umso mehr erwartet man, dass man für diese biologische Vulnerabilität auch biologische Korrelate detektieren kann. Metaanalysen zu genetischen Markern weisen darauf hin, dass viele Varianten, die mit ADHS assoziiert sind, jeweils immer nur einen sehr kleinen Teil der Erblichkeit erklären. Der polygenetische Ansatz hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und ist als eine Methode anerkannt, um die niedrigen Effektstärken der einzelnen Genvarianten zu überbrücken [4] [5]. Allerdings kann bislang kein Biomarker bei Patienten mit psychischen Störungen eine fundierte klinische Diagnostik ersetzen. Auch Neuropsychologische Tests sind in der Regel nur ergänzend einsetzbar und ohne klinische Diagnostik nicht ausreichend aussagekräftig. Ebenso zeigen neue Studien, dass auch vielversprechende einfache EEG-basierte Biomarker keine Einzelfalldiagnostik erlauben [6]. Aktuell ist der Einbezug von Biomarkern der Genetik und aus der funktionellen oder multimodalen Bildgebung zwar wissenschaftlich sehr interessant, aber sehr viel zeitaufwendiger und kostenintensiver als eine klinische Diagnostik.

Die Bestimmung solcher potenzieller Biomarker ist daher für die Praxis deshalb kaum bezahlbar. Die Zukunft ruft nach personalisierter Medizin und maßgeschneiderter Therapie, dafür brauche es Biomarker. Die Forschung zu validen Biomarkern ist wichtig und könnte die Diagnostik und Behandlung in Zukunft weiter verbessern. Aber bereits heute können wir unseren Patienten eine personalisierte Therapie auf Basis leitlinienorientierter Diagnostik und Behandlung unter Einbezug des Umfelds und mittels klinischem Monitoring anbieten.

Zürich ADHD Biomarker Working Group: Susanne Walitza, Edna Grünblatt, Silvia Brem, Dani Brandeis und Renate Drechsler

 
  • Literatur

  • 1 American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fifth Edition (DSM-5). 2013
  • 2 World Health Organization. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. 10th. Revision (ICD-10). Geneva: WHO; 1996
  • 3 Biomarkers Definitions Working Group. Biomarkers and surrogate endpoints: preferred definitions and conceptual framework. Clin Pharmacol Ther 2001; 69: 89-95
  • 4 Grünblatt E. Was sind Omics?. PSYCH up2date 2014; 8: 343-346
  • 5 Hebebrand J, Antel J. Squaring the circle? On the search for circulating biomarkers in polygenic psychiatric disorders. Eur Child Adolesc Psychiatry 2014; 23: 123-125
  • 6 Liechti M, Valko L, Müller UC et al. Diagnostic Value of Resting Electroencephalogram in Attention Deficit/Hyperactivity Disorder across the Lifespan. Brain Topogr 2013; 26: 135-151