Der Klinikarzt 2015; 44(12): 579
DOI: 10.1055/s-0041-109291
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sieg der Ökonomie über unsere ärztliche Ethik?

Matthias Leschke
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Publication Date:
19 January 2016 (online)

Unser Beruf lässt sich nur mit wenigen anderen Professionen vergleichen. Wir sind Ärzte. Wir sind keine Journalisten, die Skandale aufdecken. Wir sind keine Politiker, die scheinbar das Volk vertreten und häufig doch nur ihren persönlichen Status im Sinn haben. Wir sind keine Unternehmer, deren Ziel der Profit der Firma ist. Und wir sind keine Banker, die Volkswirtschaften ruinieren und ihre Boni erwirtschaften. Ärzte sind wir und damit ausschließlich dem Wohl unserer Patienten verpflichtet. Unsere Patienten sind keine Kunden, auch wenn unsere klinischen Marketingressorts das immer wieder behaupten. Unsere Patienten sind krank. Sie leiden. Sie stehen oft vor dem Tod. Wir müssen ihnen beistehen. Uns vertrauen sie sich an, auch in Fragen der geeigneten Vorsorge. Diesem Vertrauen müssen wir gerecht werden.

Wir wollen keine Händler sein, die unseren Patienten Dienstleistungen andienen, die ihnen wenig oder gar nichts nützen. Die sie nur Geld kosten und unsere Portemonnaies füllen. Therapien, die schlimmstenfalls Schaden anrichten oder gar das Leben kosten. Unsere Kritiker haben festgestellt – und das klingt schon ziemlich glaubhaft –, dass in Deutschland am häufigsten bei Rückenproblemen operiert wird. Arthroskopien seien inzwischen massenhaft vorgenommene Routineeingriffe. Organtransplantationen lassen sich erkaufen, und eine wahre Schattenwirtschaft hat sich unter dem Etikett IGeL etabliert. So mancher Gynäkologe wirbt ungeniert für Spiralen zur Empfängnisverhütung, denn das ist eine ordentlich dotierte Privatleistung; das Rezept für die Pille bringt dagegen nichts ein. Und so mancher Kollege verordnet seinem ängstlichen Patienten die Laborleistung Tumormarker, obwohl allgemein bekannt ist, dass selbige nur den Verlauf einer Krebserkrankung kontrollieren, doch keinesfalls Tumorneuerkrankungen detektieren können.

Sind wir Ärzte inzwischen zu Händlern mutiert? Denken wir nur noch an unser Einkommen – und wie sich das in schwierigen Zeiten optimieren lässt? Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken. Haben wir die Fallpauschalen oder die Mengenausweitung erfunden? Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio macht sich nichts vor: Die Logik der Ökonomie wurde uns nicht im Studium vermittelt; das zu begreifen und zu verinnerlichen hat uns die Gesellschaft gezwungen. Es sollte doch niemanden verwundern, wenn das Gesundheitssystem nach ökonomischen Anreizen umgebaut wird, dass dieses ökonomische Denken nicht nur vom Management, sondern auch von Ärzten verinnerlicht wird. Die Kosten für das Gesundheitswesen explodieren seit Jahren. Eine lineare Entwicklung nach oben. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Bevölkerung wird älter – trotz chronischer Krankheiten. Medizintechnik und Pharmakologie ermöglichen das. Doch dieses moderne Wunder kostet. Zu viel, klagen die Kostenträger, und die Politik erfindet ständig neue Institutionen, die die Kosten irgendwie drücken sollen. Der Gemeinsame Bundesausschuss, das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), Terminvergabestellen, Versorgungs- und Pflegestärkung. Insgesamt 23 Gesundheitsgesetze von den Anfängen bis heute, von Blüm bis Bahr wollten es richten. Herausgekommen ist ein bürokratisches Monster, das Millionen verschlingt und eine wirkliche Reform des Gesundheitswesens nachhaltig verhindert. Und das uns Ärzte immer mehr in den Griff bekommt, und zwingt, nach Grundsätzen der Ökonomie zu handeln, anstatt zu bedenken, was unsere Patienten brauchen.

Die Fallpauschalen sind kein wirklicher Segen. Sie zwingen uns, Therapien im Standardformat durchzuführen, Patienten am Fließband zu verarzten und dann zügig nach Hause zu schicken. Auch wenn dieser oder jener ältere Patient einen weiteren Kliniktag bitter nötig hätte. Ein unseliges Beispiel: Osteoporotisch bedingte Frakturen sind heute minimalinvasiv in kürzester Zeit repariert. Die eigentliche Aufgabe, die Osteoporose zu therapieren, verschwindet im Bermudadreieck zwischen Klinik, Hausarzt und Reha-Einrichtung. Die Patienten werden todsicher mit einer weiteren Fraktur in der Ambulanz auftauchen. Die ökonomisch erzwungenen Spielregeln verwehren es uns, den Osteoporose-Patienten wirklich zu helfen.

Über den Hippokratischen Eid zu reden, das ist Altertum. Doch auch das Genfer Gelöbnis ist nach 70 Jahren ein Fossil. Das Interdisziplinäre Institut für Ethik im Gesundheitswesen in Zürich hat einen zeitgemäßeren Ärzteeid entwickelt. „Ich betreibe“, so heißt es da, „eine Medizin mit Augenmaß und empfehle oder ergreife keine Maßnahmen, die nicht medizinisch indiziert sind.” Das hört sich gut an, jedoch heißt es an anderer Stelle: „Ich setze die mir zu Verfügung stehenden Ressourcen wirtschaftlich, transparent und gerecht ein.“ Die Ressourcen sind in der Tat knapp und werden noch knapper werden. Also müssen wir unsere Patienten gerecht versorgen, ihnen das zugestehen, was wirklich und nachweisbar hilft. Das sind beileibe keine bildgebenden Verfahren im Blindflug der Diagnosefindung, damit sich die Großgeräte auch rentieren. Das sind auch keine überflüssigen Laboruntersuchungen und keine Bandscheiben-OPs, bevor man nicht eine sinnvolle multimodale Schmerztherapie versucht hat. Bei all dem ist Transparenz entscheidend: Jeder Patient hat das Recht, die für ihn optimale Therapie zu erhalten. Nach unserem besten Wissen und – Gewissen.