Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-0041-110237
Ethik in der Forschung zu sexualisierter Gewalt
Publication History
Publication Date:
07 January 2016 (online)
In Heft 2/2015 dieser Zeitschrift ist die „Bonner Ethikerklärung“ erschienen, die erstmals konkrete „Empfehlungen für die Forschung zu sexueller Gewalt in pädagogischen Kontexten“ ausspricht (Poelchau et al. 2015). Mit dem vorliegenden Schwerpunktheft möchten wir einen weiteren Beitrag zur laufenden Debatte um Ethik in der Forschung zu sexualisierter Gewalt leisten und dabei u. a. Fragen nach fachspezifischen Besonderheiten stellen, nach möglichen Dilemmata im konkreten Forschungsprozess sowie nach verschiedenen Formen der Beteiligung Betroffener.
Mit der breiten gesellschaftlichen Diskussion über sexuelle Gewalt und gewaltförmige Praxen, die in pädagogischen, medizinischen und konfessionellen Einrichtungen einen Teil der Aufwachsensbedingungen von Kindern und Jugendlichen darstellen, gingen auch verschiedene politische Interventionen einher. Neben der Einrichtung des „Runden Tisches der Bunderegierung“ im Jahr 2010 und der Stelle eines „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ förderte insbesondere das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in zwei Förderlinien zahlreiche Forschungsprojekte, Forschungsverbünde sowie fünf Juniorprofessuren zum Thema. All diese Vorhaben bearbeiten derzeit einerseits eine Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen, andererseits wirken sie gemeinsam am übergeordneten Ziel einer vernetzten und möglichst nachhaltigen Forschungslandschaft zum Thema sexualisierter Gewalt mit.
Die umfangreichen und ausgesprochen heterogenen Forschungsbemühungen haben insbesondere innerhalb der Förderlinie „Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten“ zu einer ausführlichen Diskussion über Forschungsethik geführt (vgl. Dekker und Briken 2015). Denn das Interesse der Forschenden daran, möglichst umfassendes Wissen zu generieren, kann in einem nicht immer auflösbaren Widerspruch zum angemessenen Umgang mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Befragten stehen und zu dilemmatischen Situationen für die Forschenden führen. Die Forschung kann bei den Befragten und den Befragenden auch schmerzhafte Erinnerungen aktivieren, möglicherweise bis hin zur Auslösung psychischer Symptome in Zusammenhang mit früherer Traumatisierung. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass Forschungssituationen für Befragte zum Ausgangspunkt für Disclosure-Prozesse werden, indem sie gegenüber den Forschenden erstmalig über eigene Gewalterfahrungen sprechen. Forschende können also mit Fällen von sexualisierter Gewalt konfrontiert werden, die Fragen nach der Notwendigkeit pädagogischer, therapeutischer oder auch strafrechtlicher Interventionen aufwerfen. All dies setzt eine entsprechend gute Vorbereitung der Forschenden voraus. Die ethischen Voraussetzungen angemessener Forschung zu sexualisierter Gewalt wurden daher innerhalb der Förderlinie auch vor dem Hintergrund eines lückenhaften rechtlichen Bezugssystems (vgl. Kindler 2016a: 72) ausführlich und kontrovers diskutiert. Anschließend wurden sie im Rahmen der oben genannten „Bonner Ethik-Erklärung“ formuliert und verabschiedet (vgl. Poelchau et al. 2015). Diese Erklärung stellt einen wichtigen ersten Schritt dar, gleichzeitig lässt sich jedoch konstatieren, dass bislang unbedachte Problemlagen, Kontroversen, sowie Fragen nach konkretem Handeln von Forschenden in ethisch herausfordernden Situationen weiter diskutiert und bearbeitet werden müssen. Dies gilt umso mehr, als die verschiedenen disziplinären Ethik-Diskurse in den interdisziplinären Forschungsbemühungen zum Thema sexualisierter Gewalt keineswegs deckungsgleich sind.
Die Debatte um einen ethisch verantwortungsvollen Forschungsprozess, einen ethisch angemessenen Umgang mit Daten sowie eine angemessene Einbeziehung der Interessen von denjenigen, die als zu Beforschende adressiert werden, ist sowohl in medizinischen als auch in erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Debatten nicht neu. Gleichwohl haben sich in den letzten Jahren die Forderungen nach einem institutionalisierten und verbindlich formulierten Umgang mit ethischen Fragestellungen, beispielsweise durch die konsequente Anrufung von Ethikkommissionen und verschriftlichte Ethikkonzepte bei Forschungsprojekten, verstärkt. Dabei stellen sich in den aktuellen Debatten neben Fragen nach dem Verhältnis von möglichem Erkenntnisgewinn und möglichen Schädigungen (vgl. Kindler 2016a: 69) auch Fragen nach der disziplinären Übertragbarkeit. So lässt sich fragen, ob medizinische Standards der Ethikbegutachtung auf erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschungszugänge und Forschungsmethoden anwendbar sind. Dass es dringend auch einer disziplinären Reflektion bedarf, machen zudem diverse Überlegungen hinsichtlich spezifischer Erhebungsinstrumente und Auswertungsprozesse deutlich (vgl. bspw. Helfferich 2016).
In der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft hat sich in den letzten Jahren eine differenzierte Debatte über die Entwicklung, Etablierung und Institutionalisierung ethischer Standards in der Forschung und zumindest teilweise auch explizit in der Forschung zu sexualisierter Gewalt entwickelt. Dies lässt sich z. B. an Publikationen und Veranstaltungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) und der Formulierung eines Ethik-Kodex (DGfE 2010) ablesen. Gleichwohl sind damit inhaltliche Fragen, Fragen nach der Institutionalisierung beispielsweise im Rahmen von Ethikkommissionen, und auch Fragen nach der Verankerung in der universitären Ausbildung nicht abschließend beantwortet. Vielmehr kann festgehalten werden, dass ethische Standards und auch der Grad der Reflexion über ethische Aspekte und deren institutionelle Verankerung erheblich zwischen einzelnen Ausbildungsinstitutionen und Fachkulturen divergieren (vgl. Kloss 2013). Bezogen auf die Forschung im Kontext sexualisierter Gewalt wird dies durch die angenommenen und/oder empirisch belegbaren Potentiale der Schädigung im und durch den Forschungsprozess verstärkt, welche der spezifischen Vulnerabilität der Adressat_innen infolge sexualisierter Gewalterfahrungen geschuldet ist.
Aus der medizinischen Forschungsethik haben die Erziehungs- und Sozialwissenschaften den Grundsatz der Non-Malefizienz (primum non nocere) übernommen (Kindler 2014, 2016a). Anders als bei den möglichen schadhaften Effekten invasiver medizinischer oder pharmakologischer Versuche ist bei sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden jedoch zumeist ein anderer Blick nötig. Dieser zeigt, dass auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung, wenngleich auf subtilere und weniger direkt erfassbare Art, Schädigungen von Proband_innen oder Studienteilnehmer_innen möglich sind. So zeigen Alver et al. (2007) etwa folgende mögliche negative Auswirkungen von Sozialforschung auf: Gefühle des Kritisiertseins und des Missverstandenseins bei den Proband_innen; der Eindruck, durch die Studie nicht adäquat und wahrheitsgemäß bzw. reduktionistisch repräsentiert zu werden; öffentliche Bloßstellung und Stigmatisierung; Isolation und Beschädigung sozialer Beziehungen; Verlust von Würde; soziale Deprivation; verminderte Lebensqualität. Grundsätzlich ist anzuerkennen, dass durch die Inhalte mündlicher oder schriftlicher Befragungen negative Affekte ausgelöst werden können, etwa wenn Erinnerungen an belastende Situationen oder Lebensereignisse wachgerufen werden (vgl. Ybarra et al. 2009). Weiterhin sind mögliche negative soziale Auswirkungen zu bedenken (vgl. Gläser und Laudel 2006). Und speziell sexualitätsbezogene Fragen berühren einen sehr persönlichen Lebensbereich und damit die Intimsphäre der Befragten. Auf Grundlage der bestehenden Forschungsbefunde zu den potenziellen Auswirkungen von sexualisierter Gewalt auf die psychische, physische und soziale Situation der Betroffenen kann hier von einer Personengruppe gesprochen werden, die mit Blick auf mögliche „Forschungsschäden“ als besonders vulnerabel gelten kann (vgl. Speiglman und Spear 2009; Duma 2009; Priebe et al. 2010). Beispiele für forschungsethische Leitlinien, die dies dezidiert thematisieren, finden sich mittlerweile auf internationaler Ebene (WHO 2007; Hearn et al. 2007; Jewkes et al. 2012). Auch unabhängig von den jeweiligen Inhalten eines Forschungsvorhabens gilt es zu beachten, dass die Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten in der Regel asymmetrisch ist und dass die Forschenden aus Sicht ihrer „Objekte“ als machtvoll wahrgenommen werden können (vgl. Pekkale 2007; Thiel 2013; Helfferich 2016). Besonders gravierend kann dies sein, wenn die Befragten diesbezüglich negative Vorerfahrungen haben, was gerade auf Menschen mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt oder sexueller Grenzverletzungen zutreffen kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Nähe und Distanz ist somit auch für die Interaktion von Forscher_innen und Beforschten zu stellen. Dies gilt zwar nicht ausschließlich, jedoch insbesondere für qualitative Forschungsdesigns. Als Folge einer emotionalen Verstrickung zwischen Forschenden und Forschungsteilnehmer_innen besteht hier u. U. sogar die Gefahr eines möglichen „Professional Sexual Misconduct“ (vgl. Tschan 2005; AERA 2011). Demgegenüber stellt sich für quantitative Ansätze stärker die Herausforderung, mit der methodisch bedingten Geschlossenheit von Fragen oder Formulierungen nicht unreflektiert stereotype Annahmen zu übernehmen, zu perpetuieren und dadurch die Entfaltung der subjektiven „Erleidens- und Erlebensdimension“ (Helfferich 2016: 121) von sexualisierter Gewalt von vornherein zu begrenzen. So zeigen etwa Untersuchungen standardisierter Verfahren zur Erfassung von sexualisierter Gewalt Diskrepanzen zwischen den Selbstauskünften von Betroffenen und anderweitig dokumentierten Angaben (vgl. Kindler 2016b: 196).
Als Folge dieser Überlegungen ist die besondere Bedeutung des Informed Consent bei Forschungsvorhaben im Kontext von sexualisierter Gewalt hervorzuheben (vgl. Hageman-White 2016: 22). So werden Personen durch erlittene sexuelle Gewalterfahrung, also qua einer Handlung, die eine massive Verletzung ihrer Autonomie und ihres Selbstbestimmungsrechtes darstellt, zu potenziellen „Forschungsobjekten“. Eine neuerliche Missachtung oder Beschädigung derselben durch Forschungsmaßnahmen gilt es zu vermeiden. Neben den Anforderungen an eine möglichst umfassende, angemessene und verständliche Information der Teilnehmer_innen über das Forschungsvorhaben sollte hier auch die Rolle von möglichen subtilen Zwängen bedacht werden, wie sie beispielsweise bei der Befragung von Kindern und Jugendlichen aus stationären Wohnformen eine Rolle spielen mögen (vgl. Pekkale 2007). Zudem sollte die Frage aufgeworfen werden, ob und unter welchen Umständen es einen „stellvertretenden“ Informed Consent geben kann, wenn z. B. Eltern bzw. Betreuende stellvertretend für Kinder einwilligen (vgl. Fjell 2007). Auch sollten Grundsätze formuliert werden, die deutlich zum Ausdruck bringen, dass ein einmal gegebener Consent jederzeit zurückgezogen werden kann. In besonderem Maß sind davon auch Forschungsdesigns betroffen, deren Methodik z. T. auf Täuschungen und einer nachträglichen Einholung des Informed Consent basieren (z. B. Experimente, verdeckte Beobachtung u. Ä.).
Eine angemessene Repräsentanz Betroffener im Forschungsvorhaben und die Verwirklichung von Formen der Selbstdeutungshoheit stellen einen weiteren wichtigen Schritt dar, Forschung als einen gleichberechtigt-partnerschaftlichen Prozess zu interpretieren und die Teilnehmer_innen nicht auf wenige, für das Forschungsinteresse relevante Eigenschaften zu reduzieren (vgl. Mertens et al. 2009; Silka 2009). Kindler (2016a: 69) zufolge kann sich hieraus für die Forschenden eine spezifische Notwendigkeit zur selbstbestimmten Einhegung und Begrenzung der Forschungsfreiheit ergeben, die sich nicht zuletzt aus einer Kooperation von Forschenden und Beforschten nach einem „Prinzip des Respekts“ (ebd.: 83) ergibt.
Die hier nur kurz aufgezeigten Themen und Herausforderungen machen deutlich, wie wichtig eine Sensibilisierung für ethische Fragen gerade in Zusammenhang mit der Anlage von Forschungsprojekten zu sexualisierter Gewalt ist. Ein Anfang ist gemacht und hat bei den im Feld tätigen Forscher_innen neue Modi der Reflexion hervorgebracht, wie nicht zuletzt die Beiträge dieser Ausgabe verdeutlichen. Angesichts der in der Sozial- und Erziehungswissenschaft und in ihren Nachbardisziplinen derzeit noch vorherrschenden Orientierung an den etablierten forschungsethischen Traditionen anderer Disziplinen kann gerade hier eine dialogische Ergänzung von Forschungstheorie und -praxis einen entscheidenden emanzipativen Schritt darstellen. Ein solcher könnte zur Herausbildung eigener ethischer Standards führen, die letztlich auch über Forschungsfragen zu sexualisierter Gewalt hinaus Gültigkeit beanspruchen könnten.
Die Autorinnen des ersten Beitrags, Sabine Andresen und Sophie Künstler, wählen denn auch einen theoretisch-disziplinären Zugang zum Thema. Aus einer Perspektive sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung stellen sie die Frage, ob die Beschreibung von Kindern als handlungsfähige Akteure mit der Gefahr einher geht, kindliche Vulnerabilität systematisch auszublenden. Vor diesem Hintergrund plädieren sie für eine kindheitstheoretische Weiterentwicklung der Kindheitsforschung und skizzieren anhand einer eigenen ethnographischen Studie das Potenzial sozialwissenschaftlicher Empirie für die Identifizierung und Analyse von Indikatoren der Verletzlichkeit in der Kindheit.
Mit konkreten forschungspraktischen Fragen beschäftigen sich im zweiten Beitrag Werner Thole und Martin Grosse. Anhand von zwei Fallgeschichten arbeiten sie jene Dilemmata heraus, in die Forschende geraten können, wenn Ansprüche an „gute“ wissenschaftliche Praxis mit einer humanistisch ausgerichteten, rechtlich kodifizierten und gesellschaftlich geteilten Moralvorstellung in Konflikt geraten. Allgemeine ethische Richtlinien seien in diesem Fall nicht dazu geeignet, den Forscher_innen die im Einzelfall notwendige ethische Reflektion im Kolleg_innenkreis abzunehmen.
Thomas Schlingmann setzt sich in seinem Beitrag schließlich mit dem komplizierten Verhältnis von Wissenschaft, Praxisinstitutionen und Betroffenen im Kontext sexualisierter Gewalt auseinander. Dies Verhältnis sei regelmäßig von Hierarchien, Ängsten und Misstrauen geprägt. Der Autor diskutiert unterschiedliche Formen der Partizipation von Betroffenen und Praktiker_innen am Forschungsprozess und macht Vorschläge für ein produktiveres Verhältnis der drei Bereiche. Der Themenschwerpunkt wird so abgerundet mit einem Plädoyer an die Wissenschaft, in der Beteiligung eine Chance zu erkennen und nicht die Bedrohung der eigenen Position.