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DOI: 10.1055/s-0042-101612
Kolumne · Rechtsticker
Publication History
Publication Date:
07 April 2016 (online)
Rituale und Gewohnheiten
Im Schatten der Gewohnheit verkümmert das Erlebnis.
(Manfred Hinrich (1926–2015), dt. Philosoph)
Unsere Familie besteht aus sieben Personen und einem Hund. Wir „Kinder“ sind erwachsen, selbstständig und leben nicht alle in derselben Stadt. Die Eltern, respektive Großeltern, sind Rentner und wir restlichen fünf stehen, wie man so schön sagt, mitten im Leben. Mit allem, was dazu gehört. Nun hat unsere Mutter es sehr gern, wenn wir so oft wie möglich alle zusammen sind. Was sich immer wieder als große logistische Herausforderung bei uns Kindern und Enkelkindern erweist und langfristig und minutiös geplant werden muss. Letztendlich bemühen wir uns alle, wenigstens an Weihnachten, an mindestens einem Abend, in derselben Stadt, in derselben Wohnung das große Familientreffen wahr werden zu lassen. Ich sehe deutlich, wie Menschen aus Großfamilien nur leise lächelnd mit dem Kopf schütteln und denken, dass die Günthers sich aber auch anstellen – aber ich weiß auch nicht, woran es liegt. So ist es bei uns nun mal.
Jedenfalls haben wir es auch im vergangenen Jahr tatsächlich wieder geschafft. Am 24.12. traf sich die gesamte Familie inklusive Hund bei mir, um den Heiligabend gemeinsam zu verbringen. Ich will jetzt nicht weiter auf die Planung und Durchführung dieses einen Abends eingehen. Ich glaube, viele kommen bei der Vorbereitung so eines Familienfestes an ihre Grenzen. Ich möchte auch nicht weiter auf diversen Einkaufs-Odysseen rumreiten, bei denen ich mindestens einmal einem Nervenzusammenbruch nahe war und ich mich jedes Mal mit meinem Sohn gestritten habe. Unsere Mutter-Kind-Beziehung wurde auf eine harte Probe gestellt. Dann das Platzproblem in meiner Wohnung. Die mangelnden Sitzgelegenheiten. Weihnachtsbaum oder nicht? Und wenn ja, wohin? Dann noch die Geschenke! Ich war fix und fertig. Mit allem. Zum Schluss aber, als mein Sohn die Enten im Herd hatte, mein Bruder mit viel Bier und Prosecco angereist war, und auch die Eltern um 16.00 Uhr am weihnachtlich gedeckten Tisch saßen und weihnachtliche Musik vor sich hin klimperte, war es – wie bei wahrscheinlich allen – ganz schön. Wir hatten uns alle schick gemacht. Selbst der Hund bekam ein weihnachtliches Halsband umgeschlungen. Übrigens hatte auch jeder einen Stuhl. Mein Sohn hatte noch drei Stühle aus seiner Wohnung geholt und verkündet, dass er im nächsten Jahr einen Sprinter mieten wird, um seinen Hausstand von A nach B zu transportieren. Dann kam es, wie es kommen musste. Nein, wir haben uns nicht gestritten. Dennoch war meine Mutter, so glaube ich zumindest, nicht zufrieden da mit, wie der Abend so gelaufen ist. Wenn sie von diesem Weihnachten spricht, wird sie nicht müde zu sagen, wie lustig es war, ABER …
Als mein Bruder und ich noch Kinder waren, lief der Heiligabend immer gleich ab. Vater schmückte am Vormittag den Baum. Danach war das Wohnzimmer eine No-go-Area (wie man heute sagen würde). Mittags gab es immer Kakao und Brötchen. Am frühen Abend, es musste aber schon dunkel sein, durften wir, nachdem wir uns in Schale geschmissen hatten, dann endlich ins Wohnzimmer, um vom Weihnachtsoratorium begleitet den Baum in seiner ganzen Pracht zu bewundern. Viele Jahre lang mussten mein Bruder und ich genau vor diesem Baum ein Weihnachtsgedicht aufsagen. Bis wir uns irgendwann verweigert haben und meine Mutter uns aus der Gedichtepflicht entlassen hat. Dafür hat sie dann immer eine Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Dann war Bescherung. Anschließend wurde gegessen und es gab immer Kasseler, Sauerkraut und Kartoffelsalat. Der Abend endete damit, dass wir auf dem Sofa saßen, (altersgerechten) Glühwein tranken, Musik hörten und irgendwann ins Bett gingen. Das war ein Ritual. Das war besinnlich, feierlich, getragen. Einfach angemessen. Ich weiß es nicht mehr genau, aber gelacht wurde eher nicht.
Und jetzt, Weihnachten 2015? Beim Kaffeetrinken war alles noch in Ordnung. Es kam die Bescherung. Ging auch noch gerade mal so. Danach hat meine Mutter ständig verkündet, sie würde jetzt die Weihnachtsgeschichte vorlesen. Das allgemeine Interesse für diese Geschichte möchte ich als sehr, sehr gering beschreiben. Erst als meine Mutter leicht weinerlich versprach, dass diese Geschichte auch sehr kurz sei, hatten wir ein Einsehen und hörten zu. Danach sind wir Frauen noch einmal eine Runde mit dem Hund losgezogen. Das frühlingshafte Wetter hat jetzt auch nicht unbedingt zu meiner weihnachtlichen Stimmung beigetragen. Dafür hatte sich unsere Mutter wieder beruhigt. In der Zwischenzeit hat mein Sohn gekocht. Anschließend haben wir gegessen – und dann lief alles ein bisschen aus dem weihnachtlichen Ruder. Dabei war es da gerade mal halb acht. Wir Kinder und sogar mein Vater, der es vor seiner Frau wahrscheinlich nie zugeben wird, fanden den Abend super. Eine gelungene Party. Bier und Prosecco liefen in Strömen, es gab gute Musik und wir haben viel gelacht. Die Eltern haben wir gegen 23 Uhr in ein Taxi gesetzt und sind selbst erst gegen 3.00 Uhr ins Bett gefallen. Da war dann auch der mangelnde Platz in der Wohnung kein Thema mehr. Es war einfach nur schön.
Warum erzähle ich das alles? Es geht um Rituale und Gewohnheiten. Beschrieben werden Rituale als „Gesamtheit festgelegter Bräuche und wiederholbare oder wiederholte Handlung, die nach eingeschliffenen oder vorgeschriebenen Regeln abläuft“. Jetzt ist vielleicht das Weihnachtsfest ein etwas grenzwertiges Beispiel – aber unterhaltsam allemal. Aber auch im alltäglich Leben oder im Stationsalltag halten wir, ob bewusst oder unbewusst, an irgendwelchen Ritualen fest. Diese Rituale oder Gewohnheiten werden auch nur selten und dann nur schwer hinterfragt. Es gibt viele Dinge, die wir einfach nur tun, weil sie immer so gemacht wurden und werden. Auf den Stationen geht es mit einem durch und durch organisierten Stationsablauf los, der kaum Raum für Individualität lässt. Und ich meine damit nicht nur die Individualität des Patienten, sondern auch die des Pflegepersonals. Es bleibt doch oft sehr wenig Raum und Zeit für Kreativität und Eigeninitiative oder dafür, mal etwas Neues auszuprobieren. Gerade junge Kollegen bleiben oft unter ihren Möglichkeiten und verlieren schnell das Interesse an unserem Beruf. Denn viel zu viel wird so und so gemacht, weil es schon immer so gemacht wurde. Da nehme ich mich selbst gar nicht heraus, denn gerade in Zeiten, wenn das Personal zu wenig und die Arbeit zu viel ist, retten uns Rituale, Gewohnheiten und Automatismen oft über den Tag. Aber wenn sich einmal Gelegenheiten und Möglichkeiten für etwas Neues auftun, sollten wir sie nutzen. Vielleicht sind wir alle verblüfft, dass es doch noch besser geht.
In diesem Sinne, Ihre
Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de