Z Sex Forsch 2016; 29(01): 90-97
DOI: 10.1055/s-0042-102432
Buchbesprechungen
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Publication Date:
23 March 2016 (online)

Kirsten von Sydow, Andrea Seiferth, Hrsg. Sexualität in Paarbeziehungen. Göttingen: Hogrefe 2015 (Reihe: Praxis der Paar und Familientherapie, Bd. 8). 228 Seiten, EUR 29,95

Kirsten von Sydow und Andrea Seiferth legen ein beeindruckend pragmatisches Buch zur Sexualität in Paarbeziehungen vor, das sich aus allen ideologischen Streits über Methodik und deren Konsistenz heraushält und versucht, soweit das in diesem Feld überhaupt möglich ist, sich an die empirische Evidenz zu halten – oder zumindest an das, was in die Richtung einer solchen Evidenz weisen könnte.

Es gliedert sich in sieben Kapitel: Zunächst wird vorgestellt, was wir über die Entwicklung der Sexualität in heterosexuellen Beziehungen zu wissen scheinen (mit einem nur kurzen Exkurs zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen, da hierüber das Wissen besonders spärlich ist). Dann werden sexuelle Probleme, aber auch Ressourcen nicht nur entsprechend ihrer Aufzählung in den bekannten psychiatrischen Klassifikationssystemen dargestellt, sondern es wird auch auf die Problematik von Definitionen, entsprechender Epidemiologie und dahinter stehenden Einstellungen eingegangen. Ähnlich werden im Kapitel über die theoretischen Konzepte zur Sexualität und sexuellen Problemen in Dauerbeziehungen biologische Aspekte, genetische Faktoren, Sozio- und Evolutionsbiologie, gesellschaftliche Faktoren und die soziale Austauschtheorie jeweils kurz (und nicht immer ganz tiefgründig) abgehandelt und Konzepten von Lerntheorie und psychodynamischen wie systemischen Theorien gegenübergestellt. Diese Theorien werden insbesondere im Hinblick auf die uns immer wieder begegnenden Konflikte zwischen emotionaler Sicherheit und Erotik, Bindungsbedürfnis und erotischer Leidenschaft, zwischen politisch korrekten Idealen und derben sexuellen Fantasien und Wünschen untersucht. In den Ansätzen für Therapie und Beratung kommen zum einen die behavioral-integrativen Sexualtherapien, die systemisch integrative Paar- und Sexualtherapie, die emotionsfokussierte Paartherapie (EFT) und David Schnarchs „Feuerproben“ Ansatz in all ihren Widersprüchlichkeiten und wenigen Gemeinsamkeiten zur Sprache. Zum anderen werden Prävention, Spontanremission, Selbsthilfe, Medikation für Männer und Frauen und sehr häufige Problemstellungen wie Außenbeziehungen und Gewalt in der Beziehung behandelt und praktische Anregungen gegeben, wie damit umzugehen sei. Nach der (zugegebenermaßen nur sehr überblicksmäßigen) Darstellung des Forschungsstandes werden mit Augenmaß Implikationen für Therapie und Beratung und in einem letzten Kapitel Fallbeispiele (Einzeltherapie mit Einbezug des Partners und Paartherapie) angeboten.

Sehr ausführlich und immer wieder wird auf die Spannung zwischen Bindungssicherheit und dem (besonders von David Schnarch ins Spiel gebrachten) Faktor der „Differenzierung“ der individuellen Entwicklung der Persönlichkeit für sexuelles Erleben eingegangen: „Eine Sicht, die davon ausgeht, dass bindungssichere Paare auch den besten Sex haben, steht im Widerspruch zu der Sichtweise, die postuliert, dass Erregung und Lust (auch) aus der Transformation traumatischer Erfahrungen entstehen kann. Empirisch belegt ist, dass sexuelle Fantasien und auch literarische und visuelle Pornographie, die sich am besten verkauft, oft derbe und z. T. politisch unkorrekte Inhalte (z. B. Dominanz und Submission) hat“ (S. 169). Es folgt die Darstellung eines Untersuchungsergebnisses von Morokoff aus dem Jahre 1985, in dem nachgewiesen werden konnte, dass Frauen mit einer besonderen Neigung zu sexuellen Schuldgefühlen („sex guilt“) erotische Filme als wenig erregend beschreiben, aber gleichzeitig physiologisch-sexuell stärker auf solche Filme reagieren, als Frauen mit weniger sexuellen Schuldgefühlen.

Sehr angenehm an der im Buch vermittelten Einstellung fand ich, dass auch die oft bei Therapeuten vermittelte Haltung – Sexualität wäre eine wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Partnerschaft – hinterfragt wird. Die Datenlage bestätige zwar eine Korrelation zwischen Partnerzufriedenheit und sexueller Zufriedenheit in großen Kollektiven, aber natürlich gebe es auch eine hohe Partnerzufriedenheit bei Paaren, die ganz oder weitgehend auf Sexualität verzichtet haben.

Das Buch ist besonders Praktikerinnen und Praktikern zu empfehlen, denen es weniger um „die reine Lehre“ geht als um einen informierten Umgang mit dem uns heute zur Verfügung stehenden Wissen und die sich nicht scheuen, sich in ihren Therapien mit Paaren, die sexuelle Probleme haben, eben irgendwie „durchzuwursteln“.

Wolfgang Berner (Hamburg)