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DOI: 10.1055/s-0042-118124
Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – mehr Fragen als Antworten
Publication History
Publication Date:
24 November 2016 (online)
Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) ist die freie Entscheidung einer einwilligungsfähigen Person, Essen und Trinken einzustellen, um damit absichtlich den eigenen Tod herbeizuführen [1]. In der palliativen Begleitungssituation sind uns zahlreiche Patienten im Gedächtnis, die Nahrung und Flüssigkeit nicht mehr zu sich nehmen konnten, oder danach kein Verlangen mehr hatten, oder diese auch bewusst ablehnten. Was aber, wenn Patienten in einer nicht sterbenahen Situation die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ablehnen? Und was, wenn dieser Wunsch geäußert wird von Personen, die im medizinischen Sinne nicht als krank, nicht als „Patient“, bezeichnet werden können, sondern Essen und Trinken aus einer bewussten Willensentscheidung bei (weitgehender) physischer und psychischer Gesundheit abgelehnt wird? Wie bezeichnet und bewertet man einen solchen Vorgang aus ethischer und rechtlicher Perspektive? Und welche Rolle kann und will die Palliativmedizin in solchen Begleitungssituationen übernehmen?
Die wissenschaftliche Diskussion der vergangenen Monate fokussierte vor allem auf die Frage, ob der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit eine Form des Suizids darstellt. Dabei wurden Analogien psychiatrischer Definitionen zugrunde gelegt, deren Übertragbarkeit auf die nichtpsychiatrische Situation zu klären ist, sowie grundlegende, insbesondere auf die Handlungsabsicht ausgerichtete Begründungsebenen aufgeführt [2]. Die palliativmedizinische Perspektive, z. B bei Patienten mit fortschreitender inkurabler Grunderkrankung, ist eher geprägt von der Wahrnehmung des nachlassenden Hunger- und Durstgefühls am Lebensende als Teil des natürlichen Sterbeprozesses, bei dem die selbstbestimmte Entscheidung zum Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit lediglich eine weitere Komponente des Unterlassens darstellt, die zu einer reduzierten oder aufgehobenen Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit führt. Fest stehen dürfte, dass zumindest die palliativmedizinische Symptomlinderung in dem stattfindenden protrahierten Sterbeprozess nicht als Beihilfe zum Suizid zu werten ist.
Der in dieser Ausgabe der „Zeitschrift für Palliativmedizin“ zu findende Beitrag von W. Krüskemper, U. Hofmeister und A. Stähli wirft dankenswerterweise einen weiteren, klinisch-praktischen Blick auf den FVNF und greift umfassend die Perspektive derjenigen auf, die in der Begleitung und Symptomlinderung der Menschen involviert sind, die sich zu diesem Schritt entschlossen haben – die hospizliche und palliativmedizinische Durchführungsperspektive. Im dargestellten Fallbeispiel und Handlungsleitfaden findet sich ein reicher Fundus an hilfreichen Maßnahmen, die den betreuten Menschen in dieser Phase zu Gute kommen können.
Dennoch können das genannte Fallbeispiel eines nach Unfall querschnittsgelähmten, komplex belasteten Patienten sowie der Handlungsleitfaden nicht unkommentiert bleiben:
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Die ethische Ambivalenz nicht nur der Handlung als solcher, sondern auch der Zuarbeit seitens der Palliativmedizin, deren Ziel es nicht sein darf, Begleitung so auszugestalten, dass das Leben verkürzt wird, kann nur unterstrichen werden. In diesem Zusammenhang findet man in der Literatur eine zunehmende Selbstverständlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber dem FVNF als möglicherweise ethisch akzeptabelsten Weg, das Leben enden lassen zu wollen [vergl. www.sterbefasten.com; [3] [4]].
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Es bedarf einer Klärung, welche Patienten mit diesem Verfahren des FVNF insgesamt, aber auch bei den konkreten Umsetzungsvorschlägen, gemeint sind. Wenn z. B. der Allgemeinzustand eines Patient eine Mundpflege nicht mehr zulässt, wie im Handlungsleitfaden als denkbare klinische Situation skizziert, stellt sich die Frage, ob sich dieser Patient noch freien Willens zum Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit entscheiden konnte. Und: wären die Entscheidungsfindung und das Vorgehen identisch, wenn es sich nicht um einen querschnittsgelähmten Patienten, sondern um einen anderweitig „gesunden“ Menschen gehandelt hätte?
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Welche Rolle spielt die (palliative) Sedierung in einem Prozess, der durch eine potenzielle Reversibilität zumindest in den ersten Tagen gekennzeichnet ist, und selbst ein Verfahren ist, welches einer abwägenden, ethisch reflektierten Indikationsstellung bedarf?
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Welche Daten oder Evidenz haben wir für das „richtige“ Vorgehen beim FVNF? Was wissen wir wirklich über Hunger- und Durstgefühl, über die Sinnhaftigkeit von stufenweiser Reduktion der Nahrungszufuhr oder über die Effektivität der Symptomlinderung?
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Was soll geschehen nach dem Tod, wenn man sich die in der medizinethischen Literatur vertretenen Grundsatzüberlegungen zum FVNF als Form des Suizids in der Praxis wirklich zu Eigen machen würde? Handelt es sich dann um einen unnatürlichen Tod, mit der Konsequenz der Verständigung der Kriminalpolizei und möglicher staatsanwaltschaftlicher Beschlagnahmung der Leiche?
Insofern stellt uns der FVNF besonders im Kontext der Palliativversorgung derzeit noch deutlich mehr Fragen, als Antworten. Dem so wichtigen Beitrag der Münsteraner Arbeitsgruppe sei Dank – die Diskussion ist eröffnet.
Prof. Dr. Bernd Alt-Epping
Prof. Dr. Lukas Radbruch
Prof. Dr. Friedemann Nauck
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Literatur
- 1 Simon A, Hoekstra N. Sterbefasten – Hilfe im oder Hilfe zum Sterben?. Dtsch Med Wochenschr 2015; 140: 1100-1102
- 2 Birnbacher D. Ist Sterbefasten eine Form von Suizid?. Ethik Med 2015; DOI: 10.1007/s00481-015-0337-9.
- 3 zur Nieden C. Sterbefasten. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – eine Fallbeschreibung. Frankfurt / M: Mabuse; 2016
- 4 Chabot B, Walther C. Ausweg am Lebensende: Sterbefasten – Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. München, Basel: Ernst Reinhard; 2011