Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(02): 77-78
DOI: 10.1055/s-0042-120962
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wissenschaftlicher Diskurs statt Glaubenskampf

Scientific discourse instead of a struggle of faith
Joachim Klosterkötter
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Publication Date:
24 February 2017 (online)

Nicht wenige der im neurologisch-psychiatrischen Grenzgebiet anzusiedelnden Störungen stellen große Herausforderungen dar. Auch die Einschätzung der Behinderungsfolgen bei der häufig anstehenden Beurteilung der Erwerbs- oder Berufsfähigkeit bereitet oft Schwierigkeiten. Wie kontrovers die Verhandlung der sozialmedizinischen Fragen vor Gericht ablaufen kann, zeigt das Fallbeispiel, mit dem der Beitrag zum auch als „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) bezeichneten „Chronischen Müdigkeitssyndrom“, englisch „Chronic Fatigue Syndrome“ (CFS) in diesem Heft beginnt [1]. Erfreulicherweise haben solche die Gutachter geradezu in eine Art von pseudowissenschaftlichem „Glaubensstreit“ hineintreibenden Vorerfahrungen in diesem Fall zu einer kritischen Sichtung des aktuellen Kenntnisstandes zur CFS/ME-Problematik geführt.

Handelt es sich in der Tat um eine eigenständige und durchaus auch schwere, mit erheblichen psychosozialen Funktionsverlusten einhergehende neurologische Erkrankung? Welche Modelle zur Entstehung einer solchen Erkrankung, etwa über oxidativen Stress oder Autoimmunprozesse, wären dann überzeugend? Könnten vielleicht auch Veränderungen des Mikrobioms eine ursächliche Rolle spielen, wenn sich die Befunde einer verringerten Bakterienvielfalt im Darm mit Vermehrung der pro- und Verminderung der antiinflammatorischen Komponenten bei Patienten mit chronischem Erschöpfungssyndrom erhärten ließen [2]?

Auf der anderen Seite leuchtet es oft gar nicht ein, warum die Betroffenen – und im Streitfall auch ihre Rechtsvertreter – selbst nach gründlichstem Ausschluss einer infektiologischen, immunologischen oder anderen ZNS-Erkrankung weiter von einer organischen Verursachung ihrer Erschöpfungssymptome ausgehen. Darin stimmen sie mit den mehr dem psychiatrisch-psychosomatischen Pol des Grenzgebiets zuzuordnenden Patienten überein, die immer wieder körperliche Ausschlussuntersuchungen einschließlich auch explorativer Operationen anstreben und sich oft auch gewagten, nur auf vagen Krankheitshypothesen beruhenden, mitunter sogar gefährlichen Therapien unterziehen. Wenn sich in solchen Fällen auch noch typische belastende Lebenssituationen und Konflikte ermitteln lassen, liegt es nahe, die körperlichen Beschwerden eher einer Somatisierungsstörung zuzuordnen und die Betroffenen allmählich für eine adäquate psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung zu gewinnen [3].

Wer das CFS allerdings psychiatrisch korrekt kodieren will, findet sich in der ICD-10 weiterhin auf das altehrwürdige Störungsbild der Neurasthenie [4] verwiesen. Diese Diagnosekategorie deckt die Symptomatik immer noch am besten ab und war früher noch populärer als die heute im neurologischen Teil der ICD-10 verankerte CFS/ME-Kategorie. Ihre Attraktivität scheint in dem Maße verloren gegangen zu sein, in dem man die eigene „Nervenschwäche“ nicht mehr so leicht auf Körperkrankheiten zurückführen konnte, sondern sie mehr als eine mit Angstneurosen oder Hypochondrien vergleichbare Störung betrachten musste [5]. Das fällt auch heute wegen der unterschiedlichen Akzeptanz von organischen und psychischen Störungen immer noch schwer und macht verständlich, warum oft auch bei fehlenden Beweisen so nachhaltig auf dem Vorliegen eines CFS/ME bestanden wird.

Die richtige medizinische Haltung kann nur in einer unbeirrt sachgemäßen Handhabung der neurologischen und psychiatrischen Diagnosekriterien bestehen. Auch die innovative Erklärung durch eine chronische neuroimmunologische Multisystemerkrankung lässt sich nur auf dem Wege einer kriteriengerechten Absicherung durch einschlägige Befunde zur Geltung bringen [6].

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Prof. Dr. Joachim Klosterkötter