Sprache · Stimme · Gehör 2017; 41(02): 72-77
DOI: 10.1055/s-0043-102517
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Psychopathologie des Selektiven Mutismus

Psychopathology of Selective Mutism
Christina Schwenck
,
Angelika Gensthaler
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Publication Date:
07 June 2017 (online)

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Der Selektive Mutismus ist eine psychische Störung, die durch konsistentes Schweigen in bestimmten Situationen, in denen Sprechen erwartet wird, bei gleichzeitig unbeeinträchtigtem Sprechverhalten in anderen Situationen gekennzeichnet ist. Das durchschnittliche Erstauftretensalter liegt im Vorschulalter. Das Störungsbild, das multikausal durch biologische, psychologische und soziale Faktoren bedingt ist, ist den Angststörungen zuzuordnen und weist große Überschneidungen, aber auch einige Unterschiede zur sozialen Phobie auf. Eine weitere häufige Komorbidität ist die Kommunikationsstörung, hinsichtlich Sozialverhaltensproblemen ist die Evidenz uneinheitlich. Prognostisch günstige Faktoren sind ein junges Alter, geringer Schweregrad der Symptomatik und ein früher Behandlungsbeginn. Ohne adäquate Behandlung besteht die Gefahr einer Chronifizierung der Symptomatik.

Abstract

Selective mutism is a mental disorder that can be characterised by consistent silence in specific situations in which speaking is expected, while speaking is unimpaired in other situations. The mean age of onset lies at preschool age. Selective mutism is caused by biological, psychological, and social factors and is thus multicausal in its aetiology. It belongs to the category of anxiety disorders and exhibits a significant overlap with social phobia. However, differences have also been identified. Another common comorbidity is communication disorder, while the evidence with respect to conduct problems is mixed so far. A positive prognosis is associated with young age, mild disease, and early intervention. Without appropriate treatment, there is a high risk of its becoming a chronic disorder.

Fazit

Zusammenfassend wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche ältere Erkenntnisse hinsichtlich des meist vor Schuleintritt auftretenden Störungsbildes des Selektiven Mutismus durch neue abgelöst. Die Störung wird inzwischen den Angststörungen zugeordnet und weist große Ähnlichkeiten, aber auch einige Unterschiede, zur sozialen Phobie auf. Die Sichtweise des Selektiven Mutismus in Assoziation mit Sozialverhaltensproblemen kann dagegen allenfalls für eine Subgruppe vermutet werden. Bezüglich der Genese der Störung konnten einzelne biologische, psychologische und soziale Faktoren in den Ergebnissen der Wissenschaft Bestätigung finden, für andere Ursachen dagegen, wie zum Beispiel traumatische Erfahrungen, gibt es keine Evidenz. Auch wenn Längsschnittstudien zur Erfassung genauer Entwicklungsverläufe noch ausstehen, ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der Kinder mit SM im weiteren Entwicklungsverlauf psychische und soziale Beeinträchtigungen entwickeln und eine frühzeitige Intervention essenziell für einen positiven Verlauf ist.