Z Geburtshilfe Neonatol 2017; 221(03): 145
DOI: 10.1055/s-0043-106849
Geschichte der Perinatalmedizin
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vom sogenannten „Fatschen“

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Publication Date:
30 June 2017 (online)

Wenn nach Angaben von Kinderorthopäden heute wieder eine zunehmende Tendenz zum straffen Umwickeln des Neugeborenen besteht, mit möglicherweise nachteiligen Konsequenzen für das Hüftgelenk, so wird hier von einer sehr alten und weitverbreiteten Methode der Säuglingsversorgung berichtet, die man im süddeutschen Raum als „Fatschen“ bezeichnet. Angeblich wird diese Wickeltechnik wieder vermehrt von Hebammen zur Beruhigung von sogenannten Schreikindern empfohlen.

Tradition ist diese Art, Neugeborene zu wickeln, angeblich in der Türkei und Japan.

Das Kind wird eng in ein Tuch oder in Binden eingewickelt, die Arme liegen eng am Körper, die Beine werden in Streckstellung mit leichter Adduktion gezwungen. Es wird vermutet, dass auch in Deutschland häufiger noch nach alter Tradition des Fatschens Kinder gewickelt werden.

Lange schon vor der christlichen Zeit wurden Neugeborene gewickelt. In der Antike nannte man die Bänder „fascia“, daraus wurde im deutschsprachigen Raum „Fatschen“. Die Spartaner allerdings machten damals eine Ausnahme in der Pflege ihrer Kinder. „Sie wurden nackt und frei getragen, ihre Extremitäten aber mit gewissen Handgriffen schön und ebenmäßig geformt“, so berichtet der Arzt Thomas Bartholin (1616–1680). Nach dem Abnabeln wurde das Kind mit Salz abgerieben oder in einem Bade mit Wasser, Öl und Wein gereinigt. Um das Kind „nicht zu verweichlichen und so sein Wachstum zu behindern“, wurde es nicht gewickelt.

In Rom dagegen wurde das Kind in feste Wickel und Binden eingeschnürt. Die berühmten Ärzte Soranus (2. Jhd. n. Chr.) und Galen (129–200 n.Chr.) hatten die geltenden Regeln aufgestellt, die Glieder des Neugeborenen zu strecken, zu richten und dann einzuwickeln. „Twingen sie ce samen“ (zwinge sie zusammen) hieß es auf Mittelhochdeutsch.

Man wollte mit dem Fatschen „die Gestalt des Kindes erhalten, Arme und Beine einrenken und Brüche verhindern“. Außerdem kam es dem mütterlichen Wunsch nach Ruhe entgegen. In den meisten Fällen wurde das Kind dann nur einmal am Tag ausgewickelt und trocken gelegt.

Auch das Fatschen musste gelernt sein. Es gab unterschiedliche Techniken wie z.B. Kreuzwicklung oder Rundwicklung. Das kostete Zeit. Aber danach war Ruhe für die Mutter.

In geistlichen Gedichten des 12. Jahrhunderts wurde die Geburt Jesu besungen und bebildert. Stramm gewickelt war das Kind zu sehen.

Traditionsverbundenheit und Volksfrömmigkeit führten so zum Festhalten an der Methode. Wenn das Jesuskind gewickelt war, sollte das eigene Kind in gleicher Weise versorgt sein.

In der Zeit der Renaissance und der Aufklärung, in der dem Individuum mehr Raum gegeben wurde, gewann auch das Neugeborene mehr Spielraum. Die körperliche Freiheit sollte weniger beschränkt sein.

Ungehemmt und ungehindert strampeln lassen, hieß die Parole.

Um die Hebammentätigkeit besser kontrollieren zu können, wurden Ende des 17. Jhd. „Gesetzmäßige Bestell- und Ausübungsbücher“ verfasst, die regional bindend galten und den Hebammen auch den Umgang mit dem Neugeborenen vorschrieben.

Im 18. Jahrhundert musste man einsehen, dass rechtliche Maßnahmen allein das Fachwissen und Können nicht entscheidend anheben konnten. In Straßburg und kurze Zeit später in Berlin wurde die Hebammenausbildung institutionell eingerichtet.

In vielen dafür geschriebenen, mehr oder weniger amtlichen Lehrbüchern aus der Zeit der Renaissance und der Aufklärung wurde zum Thema Kinderpflege das „Einfatschen“ als geradezu roh und mitleidslos bezeichnet. Im „Preußischen Lehrbuch der Geburtskunde für Hebammen in den Königlichen Staaten“ wird von Hofrath Dr. Hauck, dem Verfasser des Buches, 1850 empfohlen: „Die Kleidung muss eine Erwärmung des Kindes bezwecken, ohne einen Theil desselben zu drücken oder die Bewegung der Glieder zu beschränken.“

Und trotzdem gab es Ende des 18. Jahrhunderts noch Hebammenlehrbücher, in denen eine stramme Wickelung des Kindes empfohlen wurde ([Abb. 1]).

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Abb. 1 „Wochenstube“ (Quelle: Lehrbuch der Hebammenkunst, 1791, Wien).

Und wenn heute noch, wie berichtet, Neugeborene zusammengeschnürt werden, zeigt es, dass Geburtshilfe noch etwas anderes ist als handwerkliche, wissenschaft-lich fundierte Medizin.

Prof. Dr. Volker Lehmann, Hamburg