Geburtshilfe Frauenheilkd 2019; 79(03): 242-246
DOI: 10.1055/s-0044-102055
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Widerstand war möglich

Der Gynäkologe Werner Lüttge, die DGG und die Zwangsabtreibungen im Nationalsozialismus[*]
Wolfgang Frobenius
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Publication Date:
12 March 2019 (online)

Frauenärzte haben sich im „Dritten Reich“ zu willfährigen Helfershelfern der nationalsozialistischen Rassenpolitik gemacht. So begrüßte und legitimierte die überwiegende Zahl der Teilnehmer beim 23. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie (DGG) unter der Leitung des Berliner Ordinarius Walter Stoeckel (1871 – 1961) im Oktober 1933 das kurz zuvor von der Reichsregierung beschlossene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) [1]. Auf der Grundlage dieses Gesetzes sind bis 1945 wahrscheinlich rund 400 000 Männer und Frauen sterilisiert worden [2]. Schon damals setzte sich eines der führenden Mitglieder der Gesellschaft, der Frankfurter Ordinarius Ludwig Seitz (1872 – 1961), dafür ein, bei Schwangerschaft „in besonders schweren Fällen“ simultan eine Abtreibung durchzuführen – eine Maßnahme, die 1935 legalisiert wurde [3]. Die Zahl dieser Schwangerschaftsabbrüche ist unbekannt, ebenso wie die Zahl der Zwangsabtreibungen bei „Ostarbeiterinnen“, zu denen sich Frauenärzte zwischen 1943 und 1945 durch einen Erlass des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti (1900 – 1945, Suizid) nötigen ließen. Es ist anzunehmen, dass auch letztere in die Tausende gingen. Zu Tode kamen bei den Sterilisationen vermutlich 5000 Betroffene, darunter 90% Frauen [4]. Auch Abtreibungen endeten in einem Teil der Fälle tödlich [5].

* nach einem Vortrag bei der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie in Berlin am 17. Januar 2018


 
  • Archivalien und Literatur

  • 1 Dross F, Frobenius W, Thum A, Bastian A. et al. Ausführer und Vollstrecker des Gesetzeswillens – die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie im Nationalsozialismus. Hrsg. von Dimpfl T, Wallwiener D, Dross F – im Auftrag der DGGG. Geburtsh Frauenheilk 2016; 76: S1-S158 doi:10.1055/s-0042-110591
  • 2 Bock G. Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Nachdruck der Erstausgabe 1986. Münster: MV-Wissenschaft; 2010: 236
  • 3 Seitz L. Diskussionsbeitrag auf dem DGG-Kongress 1933. Arch Gyn 1934; 156: 137-138
  • 4 Wie Anm. 2.
  • 5 Rauh P. Medizinverbrechen in Erlangen. Nationalsozialistische Erbgesundheits- und Rassenpolitik an den Erlanger Universitätskliniken. In: Leven K-H, Plöger A. Hrsg. 200 Jahre Universitätsklinikum Erlangen. 1815 – 2015. Köln, Weimar, Wien: Böhlau; 2016: 262-293
  • 6 Universitätsarchiv Tübingen 335/7. Heinrich Eymer, Ordinarius in München, in einem Brief an August Mayer, Ordinarius in Tübingen (06.03.1944).
  • 7 Wie Anm. 5.
  • 8 Staatsarchiv Coburg, Spk BA Stadt, L223 [Lüttge].
  • 9 Lüttge W, von Mertz W. Alkohol-Extrakt-Reaktion A-E-R zum Nachweis von Schwangerschaft, Karzinom, Geschlecht des Kindes usw. Leipzig: Hirzel; 1927: XI u 140
  • 10 Bayerisches Hauptstaatsarchiv MK 44624, PA Lüttge, Zeugnis Wintz vom 23.11.1940.
  • 11 Staatsarchiv Coburg, Spk Bayreuth Stadt III, H 58. PA Dr. Heßler.
  • 12 Staatsarchiv Bamberg, M 10/40, Nr. 16. Brief Lüttges an die KV vom 03.07.1943.
  • 13 Zu Gauß: Wolf, Susanne. Carl Joseph Gauß. Leben und Werk. Diss. med. Würzburg 2008.
  • 14 Staatsarchiv Bamberg, M 10/40, Nr. 16 (Nachlass Lüttge). Brief Jaschkes an Lüttge vom 30.09.1943.
  • 15 Künzel W, Benedum J. Hrsg. Vom Accouchierhaus zur Frauenklinik. 175 Jahre Klinik für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Gießen 1989. Gießen: Ferberʼsche Universitätsbuchhandlung; 1989: 232
  • 16 Siehe hierzu: Doneith, Thorsten. August Mayer. Ein Klinikdirektor in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit. Stuttgart 2008; 98 – 100
  • 17 Stadtarchiv Bamberg D 1042 + 132, Dr. Lüttge. Schreiben Heßlers vom 11.10.1944.
  • 18 Ebd. Schreiben Lüttges vom 21.10.1944.
  • 19 Stadtarchiv Bamberg D 1042 + 132, Dr. Lüttge: Schreiben Lüttges an den Regierungspräsidenten in Ansbach zur Weitergabe an das bayerische Kultusministerium vom 23.10.1944.
  • 20 Staatsarchiv Coburg, Spk BA Stadt, L223 [Lüttge].
  • 21 Ebd.
  • 22 Stadtarchiv Bamberg D 1042 + 132, Dr. Lüttge. Brief Dr. Dehler vom 24.11.1945.
  • 23 Schenk, Claudia. Das Erbgesundheitsgericht Bamberg 1934 – 1945. Magisterarbeit. Universität Bayreuth, 2009: 241 – 248.
  • 24 Stadtarchiv Fürth 5-648. Schreiben des Bayer. Innenministeriums vom 27.01.1937 (5348 e 13).
  • 25 Schwarze, Gisela. Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. Essen: Klartext; 1997: 146-148
  • 26 Wie Anm. 1: 32 – 34.
  • 27 Wie Anm. 5: 273 und 276.
  • 28 Staatsarchiv Coburg, Spk BA Stadt, L223 [Dr. Lüttge]: Stellungnahme Lüttges für die Spruchkammer, in einem Schreiben seines Anwalts vom 29.01.1947.