Gesundheitswesen 2000; 62(3): 123-126
DOI: 10.1055/s-2000-10480
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die sozialmedizinischen Komponenten des Qualitätsmanagements und was die Sozialmedizin aus dem Qualitätsmanagement lernen kann

Vortrag anlässlich der Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention 1999H.-K Selbmann
  • Institut für Medizinische Informationsverarbeitung der Universität Tübingen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

Sehr geehrter Herr Präsident Gostomzyk, sehr geehrte Präsidenten und Vorsitzende, meine Damen und Herren,

Lassen Sie mich zunächst bei all jenen, insbesondere beim erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention, bedanken, die mich der Salomon-Neumann-Medaille für würdig erachtet haben. Im Gegensatz zu Günter Grass, der im Herbst 1999 den Nobelpreis für Literatur erhielt, nachdem er nach eigenen Aussagen schon seit 20 Jahren auf ihn gewartet und dadurch jeden Herbst einige aufregende Tage verbracht hatte, kam die Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille für mich vollkommen überraschend. An dem Vergleich mit dem Nobelpreis erkennen Sie übrigens, welche Bedeutung ich Ihrer Auszeichnung zumesse.

Mein besonderer Dank gilt auch dem Laudator, Herrn Prof. Robra. Manches von dem, was Sie über mich berichtet haben, kam mir bekannt vor, aber vieles war mir auch neu; nicht die Fakten, die Sichtweisen. Ihre Ausführungen zeigen einmal mehr, wie weit gespannt das Gebiet der Sozialmedizin und des Public Health sein kann. Mein Vorgänger in der illustren Reihe der Medaillenträger, Prof. Fülgraff, hatte schon in seiner letztjährigen Dankesrede darauf hingewiesen, dass „unter dem breiten Dach des Public Health viele Menschen tätig sind, ohne dies explizit zu wissen und ohne dass es ihr eigenes Selbstverständnis prägt” [3]. Ich gehöre offensichtlich zu diesen. Allerdings habe ich auch selbst oft Schwierigkeiten, eine Schublade zu finden, in die ich passen könnte und in der mich andere suchen.

Die Auszeichnung erfüllt mich mit Stolz und großer Freude und ich muss gestehen, dass ich die Ehrung noch immer nicht richtig verarbeitet habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich zurzeit als Schwabe fühle. In Schwaben gibt es bekanntlich ein Sprichwort, das da heißt: Nix gesagt, isch gnug gelobt. Wenn ein Schwabe also gelobt wird, glaubt er immer, er hat etwas verkehrt gemacht hat und das Schlimmste käme noch. „Das war sehr gut, aber...” Sie kennen das vielleicht auch aus Ihrem eigenen Umfeld. Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal ein Lob ohne Hintergedanken ausgesprochen, einfach so? Und wie hat der Empfänger dieses Lobes darauf reagiert, verunsichert, wartend auf das, was da noch kommen mag? Wie viel leichter geht einem doch da eine Kritik von den Lippen. Wenn wir in unseren Qualitätsmanagement-Seminaren die Teilnehmer fragen, was sie an ihrer Klinik auszusetzen haben, dann sprudelt es nur so aus ihnen heraus. Fragen wir sie aber, warum sie stolz auf ihre Klinik sind, dann müssen sie lange überlegen. Warum haben viele in Deutschland eigentlich das Loben und das Umgehen mit dem Lob verlernt? Vielleicht wäre „Die gesundheitsfördernde Wirkung des Lobens” ja einmal ein Thema für eine sozialmedizinische Dissertation. Ihnen fallen sicher auch spontan einige experimentelle Studiendesigns ein, um den Zusammenhang zwischen „Gelobt werden” und Steigerung der Lebensqualität nachzuweisen. Obwohl man wohl einen doppelblinden Ansatz kaum wird verwirklichen können, müsste eine randomisierte Studie und damit das Erreichen eines Evidenzgrades 1 doch möglich sein.

Es ist so üblich, dass Laureaten mit ihrem kalendarischen Alter kokettieren. Aber nicht das kalendarische Alter ist entscheidend, sondern das mentale. Ich bin in meinem Leben dreimal sprunghaft mental älter geworden: das erste Mal, als ich zum Präsidenten der mit der DGSMP befreundeten Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) gewählt wurde, das zweite Mal, als man mich bat, das Amt des Dekans der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen zu übernehmen und nun zum dritten Mal durch die Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille. Zugegeben, das letzte Mal war es am schönsten. Während die ersten beiden Male mit einem auch zeitlich überschaubaren Mandat verbunden waren, frage ich mich anlässlich der Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille allerdings: Was muss ich tun, damit ich es verdiene, in die Reihe meiner Vorgänger aufgenommen zu sein? Hans Schäfer, Fred Epstein, Jo Asvaal, Walter Holland ... - ich möchte sie gar nicht alle aufzählen, neun meiner dreizehn Vorgänger kenne ich persönlich - sie haben alle weit mehr für die Sozialmedizin und die öffentliche Gesundheit getan als ich. Nur gut, dass die durchschnittliche Lebenserwartung eines 58-Jährigen heute bei 20 Jahren liegt, so dass mir noch einige Zeit zum Nachholen bleibt. Sie sehen übrigens an den 20 Jahren, wie erstrebenswert es sein kann, zum Durchschnitt zu gehören: Immer die durchschnittliche Lebenserwartung zu erfüllen, bedeutet uralt werden.

Nebenbei bemerkt muss man sich schon fragen, ob ein generelles Heruntersetzen der Rentengrenze auf 60 Jahre nicht auch unerwünschte sozialmedizinische Wirkungen zeigt, ganz abgesehen von dem volkswirtschaftlichen Schaden. Es ist doch paradox, wenn die Leistungsfähigkeit und die Lebenserwartung der Menschen immer größer, aber die Arbeitszeitgrenze immer weiter heruntergesetzt wird. So viele Häuser können Schwaben gar nicht bauen, um ihre zusätzliche Freizeit damit zu füllen. Brauchen wir etwa in Zukunft zwei Berufe: einen für die Zeit der körperlichen Hochleistungsfähigkeit bis 45 und einen für die Zeit danach? Aber das ist ein anderes, wenn auch wieder ein sozialmedizinisches Thema.

Literatur

  • 1 Cangialose C B, Cary S J, Hoffmann L H, Ballard D J. Impact of Managed Care on Quality of Healthcare: Theory and Evidence.  American Journal of Managed Care. 1997;  3 1153-1170
  • 2 Donabedian A. Evaluating the Quality of Medical Care.  Milbank Memorial Fund Quarterly. 1966;  44 (3) 166-206
  • 3 Fülgraff G. Dankesrede zur Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention.  Gesundheitswesen. 1999;  61 65-69
  • 4 Hildebrandt S. Wahrheit und Wert mathematischer Erkenntnis. München; Carl Friedrich von Siemens-Stiftung 1995
  • 5 Nefiodow L A. Der sechste Kondratieff. Sankt Augustin; Rhein-Sieg-Verlag 1997
  • 6 Schlicht W, Schwenkmezger P. Sport in der Primärprävention: eine Einführung aus verhaltens- und sozialwissenschaftlicher Sicht. In: Schwenkmezger P, Schlicht W Gesundheitsverhalten und Bewegung Schorndorf; Hofmann Verlag 1995: 1-17
  • 7 Selbmann H K. Qualitätsmanagement, Public Health und Forschung.  Public Health Forum. 1996;  11 2-4

Prof. Dr. H. K. Selbmann

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