Zentralbl Gynakol 2000; 122(9): 457-471
DOI: 10.1055/s-2000-10714
Der historische Beitrag

J.A.Barth Verlag in Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co.KG

Schwangerschaftsabbrüche im Dritten Reich.Legale Grundlagen und gesetzliche Regelungen

G. Link
  • Frauenklinik Rottweil (Chefarzt: Dr. G. Bartzke)
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Publikationsverlauf

29. 7. 1999

23. 8. 1999

Publikationsdatum:
31. Dezember 2000 (online)

Zusammenfassung

Die vorliegende Abhandlung befaßt sich, ausgehend von den legalen Grundlagen aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, mit den in der Zeit des Nationalsozialismus ergangenen gesetzlichen Regelungen bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen. In dieser Zeit erfolgte erstmals eine gesetzliche Verankerung von eugenischer und medizinischer Indikation zum Schwangerschaftsabbruch. Gleichzeitig wurde das Abtreibungsverbot außerhalb dieser Indikationen - also insbesondere bezüglich der sozialen Indikation - verschärft überwacht. Zuwiderhandlungen wurden mit strikteren Sanktionen belegt. Dabei orientierte sich das Ziel der Schaffung bzw. Verhinderung von Schwangerschaftsabbruchmöglichkeiten am Wert der dem betroffenen Menschen im nationalsozialistischen Staat beigemessen wurde. D. h., gemäß der bevölkerungspolitischen Maxime sollten die Gebärleistungen der „Vollwertigen” gesteigert und die der „Minderwertigen” begrenzt werden.Im zweiten Teil der Arbeit wird die Praxis medizinischer und eugenischer Schwangerschaftsabbrüche am Beispiel der Universitätsfrauenklinik Freiburg dargestellt.

Induced abortions in the Third Reich. Legal basis and provision

Summary

This article analyses, after introductory comments on the legal situation in the German Empire and the Weimar Republic, the legal basis for induced abortions during National Socialist rule in Germany. During this period the first legal definition for eugenically and medically indicated abortions was established. At the same time the prohibition of induced abortions outside these criteria was controlled more strictly and violations were punished more severely. This concerned abortions mainly for social reasons. The intention was to legalise abortion for those deemed “less worthy” while, at the same time, to minimise the number of abortions of those considered as “more valuable” to society. The main thrust of this policy was to increase the birth rate of “valuable” citizens.The second part of this paper focuses on eugenic and medical abortions at the University of Freiburg's Maternity Hospital.

MeSH

K1.419.552.550.484 history of medicine, 20th centuryE8.819.774.173 induced abortions

Literatur

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  • 13 Zur Neuregelung der Zulässigkeit von Schwangerschaftsunterbrechungen und Unfruchtbarmachungen.  Deutsches Ärzteblatt. 1935;  65 754-757

1 Reichsgesetzblatt (RGBl.) I 1926, S. 239. (Inkrafttreten 8. 6. 1926).

2 Urteil 1 D 105/26 vom 11. 3. 1927, Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt.) 61/1927, S. 242-258. Vgl. Juristische Wochenschrift (JW) 56/1927, S. 2021-2026.

3 § 224 Strafgesetzbuch (StGB) = schwere Körperverletzung. In einem späteren Urteil stellte das Reichsgericht fest, daß in der Regel nur Ärzte „zur Beurteilung der Sachlage befähigte Dritte” sein könnten. Urteil I 160/28 vom 20. 4. 1928, RGSt. 62/1928, S. 137-140.

4 RGBl. I 1933, S. 529-531.

5 Rd.schr. Wagners Vg. 21/34 betr. Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischen Gründen vom 13. 9. 1934, Bundesarchiv Koblenz: R 43 II/720, Bl. 34.

6 Rd.schr. Wagners Vg. 34/34, ohne Datum.

7 Beschluß des Erbgesundheitsgerichts (EGG) Hamburg Erb 199/34 vom 16. 3. 1934, veröffentlicht in JW 64/1935, S. 215-218 und Zeitschrift für Medizinalbeamte 47/1934, S. 453-465.

7 Gütt, Rüdin und Ruttke lobten die Begründung des Hamburger EGG im nachhinein als „Musterbeispiel für die Rechtsfindung nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten” und bezeichneten den gesamten Vorgang als „schönes Beispiel dafür, wie im nationalsozialistischen Staat die Rechtspflege sich der Entwicklung des Rechtsempfindens im Volke anpaßt und ihr folgt”. Gütt; Rüdin; Ruttke (GRR) (1936), S. 259 f.

8 Beschluß des EGG Hamburg Erb 1777/34 vom 17. 10. 1934, veröffentlicht in JW 64/1935, S. 218. 1934 wurden nach den Angaben Grunaus auf Anordnung des EGG Hamburg 29 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen. Grunau in JW 64/1935, S. 8.

9 RGBl. I 1935, S. 773. Außerdem wiedergegeben in GRR (1936), S. 80. Vgl. zum folgenden GRR (1936), S. 258-263; 302-304. Ristow (1935 b), S. 127-133. Stuckart; Schiedermair (1939), S. 99 f. Feldscher (1943), S. 127 f. Deutsches Ärzteblatt (DÄ) 65/1935, S. 754-757.

10 DÄ 65/1935, S. 755.

11 Begründung zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wiedergegeben in GRR (1936), S. 81 f. Ristow (1935 b), S. 290 f.

12 Mit dieser in Abs. 2 so definierten Grenze waren nicht Kalendermonate, sondern Schwangerschaftsmonate nach geburtshilflicher Rechnung - also entsprechend 4 Wochen - gemeint. Somit durfte bis zum Ende der 24. Schwangerschaftswoche post menstruationem abgetrieben werden. Vgl. GRR (1936), S. 261.

13 § 11 Abs. 1 in der Fassung des Ersten Änderungsgesetzes = § 11 Abs. 2 in der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes. Art. 9 der 4. VO. Laut einem Erlaß des Reichsinnenministers (RMI) sollten zur Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs die Anstalten zugelassen werden, denen auch die eugenische Unfruchtbarmachung erlaubt war. Rd.erl. des RMI IV f 5031/1067 vom 29. 7. 1935, veröffentlicht in Ministerialblatt für die preußische innere Verwaltung (MBliV) 96/1935, S. 999, abgedruckt in Ristow (1935 b), S. 328-330.

14 Art. 1 der 4. VO.

15 Art. 12 Abs. 1 der 4. VO.

16 GRR (1936), S. 262, Anm. 9; 10. Vgl. zum folgenden DÄ 65/1935, S. 754-756.

17 GRR (1936), S. 198, Anm. 13.

18 GRR (1936), S. 200.

19 Vgl. hierzu erster Abschnitt. Noch kurz vor dem Ergehen des Ersten Änderungsgesetzes zum GVeN, das den Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation gesetzlich regelte, wurden vom Deutschen Ärztevereinsbund standesrechtliche Bestimmungen zu dieser Frage herausgebracht. Bekanntmachung des Deutschen Ärztevereinsbundes vom 6. Mai 1935: ¿Beschluß über das Verfahren bei Schwangerschaftsunterbrechung¿. DÄ 65/1935, S. 465.

20 GRR (1936), S. 295 f.

21 4. VO vom 18. Juli 1935: RGBl. I 1935, S. 1035-1037, wiedergegeben in GRR (1936), S. 99-102. Ristow (1935 b), S. 280-283. Reichsärztekammer (1936), S. 9-13.

22 Anordnung des Reichsärzteführers (RÄF) vom 6. 8. 1935, veröffentlicht in DÄ 65/1935, S. 751-753, wiedergegeben in GRR (1936), S. 307-311. Ristow (1935 b), S. 317-321. Reichsärztekammer (1936), S. 14 - 18.

23 Anordnungen des Stellvertreters des Reichsführers der KVD vom 7. 9. 1935 und 1. 10. 1935, wiedergegeben in Reichsärztekammer (1936), S. 19-23.

24 Reichsärztekammer (1936). Vgl. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. VI Abs. 3.

25 Anordnung des Stellvertreters des Reichsführers der KVD vom 7. 9. 1935, a. a. O.

26 Anordnung des RÄF vom 28. 8. 1937, veröffentlicht in DÄ 67/1937, S. 837.

27 Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. I, Abs. 1.

28 Art. 7 Abs. 1 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. II, Abs. 1.

29 Art. 8 Abs. 1 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. III.

30 Art. 8 Abs. 2 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. V; VI.

31 Art. 8 Abs. 3 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. VII Abs. 3.

32 Art. 9 Abs. 2 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. IX Abs. 3.

33 Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. IX Abs. 4.

34 Art. 9 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. IX Abs. 1; 2; 4.

35 Art. 12 der 4. VO. Anordnung des RÄF vom 6. 8. 1935, a. a. O., Art. IX Abs. 4.

36 Vgl. zum folgenden GRR (1936), S. 305-307.

37 Schreiben von Medizinalrat Haßmann an die Frauenklinik vom 17. 1. 1936. Vgl. zum Zweck der Fehlgeburtsmeldung: GRR (1936), S. 306, Anm. 3 und den Erlaß des Badischen Innenministers (BMI) Nr. 70897 vom 5. 9. 1941: 1. Feststellung einer erhöhten Anzahl > gegebenenfalls Abhilfe schaffen. 2. Nachforschung bei Verdacht auf strafbare Handlung.

38 Auf der 28. Tagung der Deutschen Gesellschaft für gerichtliche, soziale Medizin vom 30. Mai bis 2. Juni 1939 in Bad Ischl mitgeteilte Schätzungen: 300 000-1 Mio., Dtsch Zschr gerichtl Med 32/1939/40, S. 230 f; Deutsche Justiz (DJ) 101/1939, S. 1051.

39 Preiser (1937/38), S. 517.

40 Tagungsbericht in Dtsch Zschr gerichtl Med 32/1939/40, S. 191-500. DJ 101/1939, S. 1050-1053. Referat über „Die Bekämpfung der Abtreibung als politische Aufgabe”.

41 DJ 101/1939, S. 1051.

42 Stürzbecher (1974), S. 355. 1935 zusätzlich 4 909 gemeldete Fehlgeburten und 2 120 Schwangerschaftsabbrüche, davon 1 223 (57,7 %) aus medizinischer Indikation und 897 (42,3 %) aus eugenischer Indikation nach § 10 a.

43 Jungmichel (1941), S. 34.

44 Zahlenangaben nach Bock (1986), S. 161.

45 Bundesarchiv Koblenz: R 22/5008.

46 RGBl. I 1941, S. 63 f. Vgl. den erläuternden Erl. des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei im RMI „Verbot von Abtreibungs- und Verhütungsmitteln” S-V C 3 Nr. 317/40 vom 9. 2. 1941, veröffentlicht in Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Innern (RMBliV) 6/1941, S. 257.

47 RGBl. I 1943, S. 140 f. Änderung des Reichstrafgesetzbuchs gemäß § 9 Abs. 2 der Verordnung durch die Durchführungsverordnung vom 18. 3. 1943, RGBl. I 1943, S. 169-171 (Inkrafttreten zum 30. 3. 1943).

48 Bock (1984), S. 101.

49 Schwangerschaftsabbruch: §10 a im Wortlaut des 1. Änderungsgesetzes zum GVeN. Resterilisation: GRR (1936), S. 277.

50 Eine Erbkrankheit nach dem GVeN stelle ein Ehehindernis im Sinne des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935 (RGBl. I, S. 1246) dar. Somit war den unter das GVeN fallenden Personen außerhalb der durch § 1 Abs. 2 gegebenen Ausnahme, nämlich der Bindung an einen (ebenfalls) unfruchtbaren Partner, jede Möglichkeit genommen, eine Ehe einzugehen. Stuckart und Schiedermair begründeten dies - über das Ziel der reinen Verhinderung erbkranker Nachkommenschaft hinausgehend - so: „Ein fortpflanzungsfähiger Erbgesunder soll sich, damit seine Fruchtbarkeit dem deutschen Volk erhalten bleibt, einen erbgesunden Ehepartner suchen. Deshalb ist ihm auch die Ehe mit einem unfruchtbaren Erbkranken verboten.” (Stuckart; Schiedermair (1939), S. 109).

51 Zeitraum zwischen Inkrafttreten des GVeN und dem Inkrafttreten des Art. 12 der 4. VO. Auch bei medizinischen Schwangerschaftsabbrüchen mit gleichzeitiger Sterilisation bestand nur für die Sterilisation eine Meldepflicht, jedoch wurde auf derartigen Meldungen (Vordruck 7) durch die Frauenklinik ein gleichzeitig vorgenommener Schwangerschaftsabbruch (immer?) vermerkt.

52 Vgl. hierzu Reichsärztekammer (1936), S. 58-79.

53 Vgl. hierzu Reichsärztekammer (1936), S. 26-49.

54 Vgl. hierzu Reichsärztekammer (1936), S. 125-130.

55 Vgl. hierzu Reichsärztekammer (1936), S. 114-124.

56 Erl. des BMI Nr. 70897 vom 5. 9. 1941. Der Erl. des BMI Nr. 41045 vom 7. 6. 1943 führte schließlich eine Meldepflicht für Verdacht auf, Erkrankung an oder Todesfall nach Kindbettfieber im Gefolge einer Geburt oder Fehlgeburt ein.

Dr. Gunther Link

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