Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000; 35(4): 243-261
DOI: 10.1055/s-2000-10852-2
MINI-SYMPOSIUM
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vorwort

H. J. Bardenheuer
  • Ambulanz und Schmerzzentrum der Klinik für Anaesthesiologie, Universität Heidelberg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. April 2004 (online)

 

Schmerzen sind als ein multifaktorielles Geschehen zu betrachten. Ihre Entwicklung kann auf einem wechselseitigen Prozeß beruhen, bei dem komplexe Beeinflussungen von Schmerz, Schmerzbewältigung, psychischen Veränderungen und situativen Faktoren angenommen werden. Die Fähigkeit zu Stresstoleranz und die individuelle Persönlichkeitsstruktur sind Aspekte, die die Verarbeitung von Schmerz und Leid prägen. So werden beispielsweise „vergleichbare” Schmerzen von unterschiedlichen Menschen sehr verschieden empfunden und berichtet, wobei der kulturelle Hintergrund des Individuums eine wichtige Größe in diesem komplexen Geschehen darstellt.

Darüber hinaus ist die Art der Schmerzen für ihre Verarbeitung von entscheidender Bedeutung. So wird der akute Schmerz z. B. nach Verletzungen und operativen Eingriffen im Sinne einer biologischen Warnfunktion als zum Schutz des Körpers sinnvoll angenommen. Das akute Trauma stellt für den Patienten ein Ereignis dar, das mit Willensstärke und voller Energie überstanden werden will. Einem Rückkoppelungsprinzip entsprechend stärkt die aktive Verarbeitung von akuten Schmerzen die Widerstandsfähigkeit und das Selbstbewußtsein.

Vollkommen anders ist die Situation bei chronischen Schmerzen, vor allem dann, wenn sie mit Angst verbunden sind. Die Chronifizierung von Schmerzen führt diese immer weiter weg von ihrer eigentlichen Funktion als biologisches Warnsignal und stellt eine enorme emotionale, psychische und sozio-ökonomische Belastung dar. Isolation und Vereinsamung durch Abbau bzw. Verlust interindividueller Kontakte sowie gesellschaftliche Stigmatisierung z. B. durch Arbeitslosigkeit sind Faktoren, die den „circulus vitiosus” der Chronifizierung von Schmerzen akzelerieren und verfestigen. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, daß 50 % chronischer Schmerzpatienten eine Depression als Begleiterkrankung aufweisen [1]. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, welche wechselseitige Beeinflussung zwischen chronischen Schmerzen einerseits und Depressivität andererseits bestehen kann. Der enge Zusammenhang zwischen Schmerz und Psyche prägt wesentlich das Verhalten von Patienten, das durch „gehemmte Expressivität” charakteristisch verändert ist.

In den letzten Jahren hat sich in den medizinischen Fachgesellschaften und in der Gesellschaft überhaupt ein Wandel im Verständnis von Schmerzen vollzogen. Dieser Wandel trägt der multifaktoriellen Genese chronischer Schmerzen zunehmend Rechnung. Verschiedene Faktoren haben zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen:

Fortschritte in medizinischen Techniken haben eine gesteigerte Radikalität in der operativen und strahlentherapeutischen Behandlung von Tumoren ermöglicht. Der Umfang der operativen Eingriffe und wiederholte Operationen sind Faktoren, die die Entstehung von chronischen Schmerzen fördern. Ärzte aller Fachgebiete sind von der Erkenntnis geprägt, daß neben der Operation eine möglichst effektive Schmerztherapie für die Lebensqualität der Patienten bestimmend ist. Ökonomische Faktoren haben das Bewußtsein für die Notwendigkeit der Behandlung von Schmerzpatienten in den gesundheitspolitischen Einrichtungen geschärft. Heute wird davon ausgegangen, daß ca. 5 Mio Deutsche an chronischen Schmerzen leiden und ca. 1.5 Mio Bundesbürger einer Dauerbehandlung mit Opioiden bedürfen. Neben den Kosten, die durch die intensive medizinische Dauerversorgung von Schmerzpatienten entstehen, sind es die sekundären Kosten durch Ausfall der Arbeitskraft bzw. durch Arbeitslosigkeit und Frühberentung, die das soziale System insgesamt belasten.

Der I. Interdisziplinäre Workshop zum Thema „Anaesthesie - Schmerz - Musik” fand 1998 als gemeinsame Veranstaltung des Schmerzzentrums der Klinik für Anaesthesiologie der Universität Heidelberg und des Heidelberger Instituts für Musiktherapieforschung (Viktor Dulger Institut) der Fachhochschule in Heidelberg statt. Ziel dieser Veranstaltung war es, eine Standortbestimmung der Musiktherapie im Rahmen der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen aufzuzeigen. Referenten aus den Fachgebieten Anaesthesie, Psychologie und Musiktherapie diskutierten den multidisziplinären Aspekt und die musiktherapeutischen Handlungsstrategien zur Therapie chronischer Schmerzen. Auf der Basis der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den Schmerztherapeuten der Klinik für Anaesthesiologie und den Musiktherapeuten des Viktor Dulger Instituts wurde das „Heidelberger Modell” entwickelt, das im Sinne einer adjuvanten Therapie die musiktherapeutischen Handlungsstrategien bei chronischen Schmerzen aufzeigt.

Literatur

Prof. Dr. med. Hubert J. Bardenheuer

Ambulanz und Schmerzzentrum

Klinik für Anaesthesiologie

Universität Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 131

69120 Heidelberg