Sprache · Stimme · Gehör 2000; 24(4): 146-153
DOI: 10.1055/s-2000-10887
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Beeinträchtigen unterhaltsame Medienangebote den Spracherwerb?

Klischees, Fakten und VermutungenUte Ritterfeld1 , Peter Vorderer2
  • 1 Institut für Psychologie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
  • 2 Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung, Hochschule für Musik und Theater Hannover
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2000 (online)

Zusammenfassung

Obgleich sich die These, Sprachstörungen von Kindern seien (auch) auf den zunehmenden Medienkonsum zurückzuführen, großer Beliebtheit erfreut, konnte der empirische Nachweis dafür bislang noch nicht erbracht werden. Experimentelle und Längsschnittstudien machen zumindest deutlich, dass bei sprachlich unauffälligen Kindern der Medienkonsum keine oder nur minimale negative und positive Folgen zeitigt. Dabei wurde allerdings vor allem der datenliefernden Funktion von Medien Rechnung getragen. Weitaus weniger Beachtung fand hingegen die sprachmotivierende Funktion, die sich durch das Unterhaltungserleben während der Rezeption auszeichnet. Die Autoren vertreten die Auffassung, dass gerade der Unterhaltungswert die Aufmerksamkeit auf die Sprache zu lenken vermag. Darüber hinaus führt - so die These - ein positives Unterhaltungserleben insbesondere bei Hörkassetten zu einer häufigeren Nutzung und damit zu einer wiederholten Darbietung wohlgeformter linguistischer Einheiten. Diese Wiederholungen wiederum könnten gerade bei sprachauffälligen Kindern, die nachweislich weniger linguistisch relevante Informationen aus dem Datenangebot extrahieren können, einen kompensatorisch-sprachförderlichen Einfluss ausüben.

How do Entertaining Media Influence Language Acquisition? Stereotypes, Facts, and Assumptions

Although popular, there is no empirical evidence for the hypothesis, that children's language impairments are due to their increasing media use. Both experimental and long-term studies show that children's media consumption has no or very little negative or positive effect. This perspective, however, focusses on the data-obtaining function of the media. The motivational function, that implies the entertainment experience during exposure, has found comparatively little attention. The authors' view is that the entertaining value of the media may attract children's attention to the language. Moreover, the experience of being entertained may, particularly with audio tapes, lead to a more frequent use and thereby to a repeated exposure to well-formed linguistic units. Particularly in the case of language impaired children, who extract less linguistically relevant information from the data given, those repetitions may even have a compensatory and language enhancing effect.

Literatur

  • 1 Cantor J. Fright reactions to mass media. In: Bryant J, Zillmann D (Hrsg.) Media Effects. Advances in theory and research. Erlbaum Hillsdale, NJ; 1994: 213-245
  • 2 Cantor J. “Mommy, I'm Scared”: How TV and movies frighten children and what we can do to protect them. San Diego, New York, London; 1998
  • 3 Böhme-Dürr K. Die Rolle der Massenmedien im Spracherwerb. In: Neumann K, Charlton M (Hrsg.) Spracherwerb und Mediengebrauch. Narr Tübingen; 1990: 149-168
  • 4 Schneider W, Ennemoser M, Reinsch C. Zum Einfluss des Fernsehens auf die Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenzen. In: Groeben N (Hrsg.) Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Schwerpunktprogramm. Max Niedermeyer Verlag Tübingen; 1999: 56-66
  • 5 Bausinger H. Ist der Ruf erst ruiniert. . . Zur Karriere der Unterhaltung. In: Bosshart L, Hoffmann-Riem W (Hrsg.) Medienlust und Mediennutz. Unterhaltung als öffentliche Kommunikation. Ölschläger München; 1994: 15-27
  • 6 Zillmann D. The coming of media entertainment. In: Zillmann D, Vorderer P (Hrsg.) Media entertainment: The psychology of its appeal. Erlbaum Mahwah, NJ; 2000: 1-22
  • 7 Berg K, Kiefer M-L (Hrsg.). Massenkommunikation: eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964 - 1995. Baden-Baden; 1996
  • 8 Winterhoff-Spurk P. Medienpsychologie. Eine Einführung. Stuttgart, Berlin, Köln; 1999
  • 9 Neumann-Braun K, Güra T. Hörmedien bei Kindern und Jugendlichen. Ein Literaturbericht zu Nutzung und Funktion.  Deutschunterricht. 1997;  49 30-47
  • 10 Weiler S. Computernutzung und Fernsehkonsum von Kindern. Media Perspektiven 1997: 43-53
  • 11 Fritz J, Fehr W (Hrsg.). Handbuch Medien: Computerspiele. Bonn; 1997
  • 12 Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.). Handbuch Medienerziehung im Kindergarten. Teil 1: Pädagogische Grundlagen. Opladen; 1994
  • 13 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). Medienkompetenz als Herausforderung an Schule und Bildung. Gütersloh; 1992
  • 14 Baacke D. Das kompetente Kind. In: Baacke D, Lenssen M, Röllecke R (Hrsg.) Von Mäusen und Monstern. Kinderfernsehen unter der Lupe. GMK Bielefeld; 1997: 213-224
  • 15 Glogauer W. Die neuen Medien verändern die Kindheit: Nutzung und Auswirkungen des Fernsehens, der Videofilme, Computer- und Videospiele, der Werbung und Musikvideoclips. Weinheim; 1998
  • 16 Glogauer W. Die neuen Medien machen uns krank: gesundheitliche Schäden durch die Medien-Nutzung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Weinheim; 1999
  • 18 Stiftung Lesen (Hrsg.). Lesen im Umbruch - Forschungsperspektiven im Zeitalter von Multimedia. Baden-Baden; 1998
  • 19 Krüger U M. Thementrends in Talkshows der 90er Jahre. Media Perspektiven 1998: 608-624
  • 20 Ziegler S. Sag mir, wo die Mädchen sind! Eine Untersuchung zur Darstellung der Geschlechter auf Kinderhörspielkassetten. Hannover; 1996: (Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Hochschule für Musik und Theater Hannover)
  • 21 Donsbach W, Dupré D. Mehr Vielfalt oder „more of the same” durch mehr Kanäle? Möglichkeiten zum Unterhaltungsslalom im deutschen Fernsehen zwischen 1983 und 1991. In: Bosshart L, Hoffmann-Riem W (Hrsg.) Medienlust und Mediennutz. Unterhaltung als öffentliche Kommunikation. Ölschläger München; 1994: 229-247
  • 22 Feierabend S, Klingler W, Simon E. Was Kinder sehen. Eine Analyse der Fernsehnutzung 1998 von Drei- bis 13jährigen.  Media Perspektiven. 1999;  4 174-186
  • 23 Hansen G, Manzke L. Hexen und Monster im Kinderzimmer. Ergebnisse einer Befragung zum Gebrauch von Kinder- und Hörspielkassetten. Remscheid; 1993
  • 24 Hansen G, Manzke L. Kinderhörkassetten - Das vergessene Medium. Eine Untersuchung zur Kassettennutzung im Kinderzimmer. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) Handbuch Medienerziehung im Kindergarten. Teil 1: Pädagogische Grundlagen. Leske & Budrich Opladen; 1994: 474-482
  • 25 Paus-Haase I, Hölterschinken D, Tietze W. Alte und neue Medien im Alltag von jungen Kindern. Orientierungshilfen für Eltern und Erzieher Freiburg; 1990
  • 26 Wermke J. Tempo - Rhythmus - Kontrast. In: Groeben N (Hrsg.) Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Schwerpunktprogramm. Max Niemeyer Verlag Tübingen; 1999: 190-204
  • 27 Böhme-Dürr K. Einfluss von Medien auf den Sprachlernprozess. In: Grimm H (Hrsg.) Enzyklopädie der Psychologie. Band 3: Sprachentwicklung. Göttingen; in Druck
  • 28 Heinemann M. Störungen der Sprachentwicklung als Alarmzeichen - Neue Untersuchungsergebnisse. In: Ring K, v. Trotha K, Voß P (Hrsg.) Lesen in der Informationsgesellschaft - Perspektiven der Medienkultur. Nomos Baden-Baden; 1997: 104-110
  • 29 Grimm H, Ritterfeld U. Nachgefragt: Jedes vierte Kind ist sprachentwicklungsauffällig?.  L.O.G.O.S. interdisziplinär. 1998;  1 38-43
  • 30 Schneider S. Wie Kinder Medien gebrauchen. Theoretische Erklärungsansätze zur Auseinandersetzung von Kindern mit Medienangeboten. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) Handbuch Medienerziehung im Kindergarten. Teil 1: Pädagogische Grundlagen. Leske & Budrich Opladen; 1994: 157-170
  • 31 Oerter R, Montada L. Entwicklungspsychologie: Ein Lehrbuch. München, Weinheim; 1987
  • 32 Pöttinger I. Augen zu, Ohren auf! Das Hörkassettenangebot für Kinder. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) Handbuch Medienerziehung im Kindergarten. Teil 1: Pädagogische Grundlagen. Leske & Budrich Opladen; 1994: 330-338
  • 33 Gangloff T P. Ohrenschmaus und Kopfabenteuer. Nur wenige Kostbarkeiten auf dem Kinderkassetten-Markt. In: Gangloff TP (Hrsg.) Liebe, Tod und Lottozahlen. Fernsehen in Deutschland: Wer macht es? Was bringt es? Wie wirkt es?. Steinkopf Hamburg, Stuttgart; 1994: 221-223
  • 34 Schönbach K. Hörmedien, Kinder und Jugendliche: ein zusammenfassender Bericht über neuere empirische Untersuchungen.  Rundfunk und Fernsehen. 1993;  41 234-242
  • 35 Charlton M, Neumann-Braun K. Medienkindheit - Medienjugend. Eine Einführung in die aktuelle kommunikationswissenschaftliche Forschung. München; 1992
  • 36  Inhalte und Themen der Kinderhörspiele. Musikwoche - Kindertonträger Special 1995: 21
  • 37 Grimm H. Über den Einfluß der Umweltsprache auf die kindliche Sprachentwicklung. In: Neumann K, Charlton M (Hrsg.) Spracherwerb und Mediengebrauch. Narr Tübingen; 1990: 99-112
  • 38 Snow C E, Ferguson C A (Hrsg.). Talking to children. Language input and acquisition. Cambridge, MA; 1977
  • 39 Ritterfeld U. Welchen und wie viel Input braucht das Kind?. In: Grimm H (Hrsg.) Sprachentwicklung. Enzyklopädie der Psychologie. Band C3/3. Hogrefe Göttingen; in Druck
  • 40 Grimm H. Mother-child dialogues: A comparison of preschool children with and without specific language impairment. In: Marková I, Graumann C, Foppa K (Hrsg.) Mutualities in dialogue. Cambridge University Press Cambridge; 1995a: 217-238
  • 41 Bruner J. Wie das Kind sprechen lernt. Bern; 1987
  • 42 Grimm H. Sprachentwicklung im und über den Dialog.  Der Kinderarzt. 1987;  3 346-353
  • 43 Grimm H. Entwicklungskritische Dialogmerkmale in Mutter-Kind-Dyaden mit sprachgestörten und sprachunauffälligen Kindern.  Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie. 1994;  26 35-52
  • 44 Lemish D, Rice M L. Television as a talking picture book: A prop for language acquisition.  Journal of Child Language. 1986;  13 251-274
  • 45 Rice M L, Haight P L. “Motherese” of Mr. Rogers: A description of the dialogue of educational television programs.  Journal of Speech and Hearing Disorders. 1986;  51 282-287
  • 46 Sachs J S, Bard B, Johnson M L. Language learning with restricted input: Case studies of two hearing children of deaf parents.  Applied Psycholinguistics. 1981;  2 33-54
  • 47 Whitehurst G J, Falco F L, Lonigan C J, Fischel J E. Accelerating language development through picture book reading.  Developmental Psychology. 1988;  24 552-559
  • 48 Arnold D H, Lonigan C J, Whitehurst G J, Eppstein J N. Accelerating language development through picture book reading: Replication and extension to a videotape training format.  Journal of Educational Psychology. 1994;  86 235-243
  • 49 Bybee C, Turow J, Robinson J D. Mass media scholars' belief about the impact of television on children. (Papier vorgelegt bei der American Association for Public Opinion Research). Baltimore; 1982
  • 50 Böhme-Dürr K. Schwierigkeiten bei der Erfassung von Mediennutzung und Medienbewertung. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen. Methoden, Konzepte, Projekte Juventia, Weinheim; 1988: 93-112
  • 51 Reeves B, Nass C. The media equation. How people treat computers, television and new media like real people and places. Stanford; 1997
  • 52 Dorr A. When I was a child I thought as a child. In: Whithey SB, Abeles RP (Hrsg.) Television and social behavior: Beyond violence and Children. Erlbaum Hillsdale, NJ; 1980: 191-230
  • 53 Jörg S. Was Bilder dem Kind erzählen.  Fernsehen und Bildung. 1979;  13 209-222
  • 54 Gornik H, Klein J. Anstöße für die Sprachentwicklung. Die Kindersendung „Siebenstein” als Gesprächsthema im Kindergarten. In: Krukow M, Horn I (Redaktion) Kinderfernsehen - Fernsehkinder. v. Hase & Koehler Mainz; 1991: 234-243
  • 55 Wells G. Language development in the pre-school years. Language at home and at school. Bd. 2. Cambridge; 1985
  • 56 Lemish D, Rice M L. Toddlers, talk and television. (Papier vorgelegt bei der Konferenz der International Communication Association). San Francisco; 1984
  • 57 Grimm H. Störungen der Sprachentwicklung. Göttingen; 1999
  • 58 Grimm H. Spezifische Störung der Sprachentwicklung. In: Oerter R, Montada L (Hrsg.) Entwicklungspsychologie. Psychologie Verlags Union Weinheim; 1995b: 944-953
  • 59 Rice M L, Oetting J B, Marquis J, Bode J, Pae S. Frequency of input words on word comprehension of children with specific language impairment.  Journal of Speech and Hearing Disorders. 1994;  37 106-122
  • 60 Schneider W. Zum Einfluss des Fernsehens auf die Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenz. (Vortrag, gehalten beim Schwerpunkttreffen „Lesesozialisation in der Mediengesellschaft”). Bonn; 2000
  • 61 Kracke I. Perception of rhythmic sequences by receptive aphasic and deaf children.  British Journal of Disorders of Communication. 1975;  10 43-51
  • 62 Weinert S. Spracherwerb und implizites Lernen. Bern; 1991

Dr. Ute Ritterfeld

Institut für Psychologie

Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Postfach 4120

39016 Magdeburg

eMail: Ute.Ritterfeld@gse-w.uni-magdeburg.de

Prof. Dr. Peter Vorderer

Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung

Hochschule für Musik und Theater Hannover

Hohenzollernstraße 47

30161 Hannover

eMail: Peter.Vorderer@hmt-hannover.de