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DOI: 10.1055/s-2000-661
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Trauma unbekannter Genese
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. Dezember 2000 (online)
Der Fall
Gegen Mittag entdeckt ein Vater seinen 15-jährigen, blutverschmierten Sohn in dessen Zimmer, wie er sich nicht ansprechbar auf dem Fußboden wälzt, und alarmiert deshalb den Rettungsdienst. Der Notarzt trifft zeitgleich mit der RTW-Besatzung an der Einsatzstelle ein. Er sieht den jungen Patienten mit rosiger Hautfarbe, bekleidet mit einem kurzen Schlafanzug, nicht ansprechbar, ohne Reaktion auf Schmerzreize, der sich in zahllosen Glassplittern auf dem Boden in Bauchlage hin und her wälzt. Die Haut über beiden Knien, den Unterarmen und an beiden Wangen blutet kräftig infolge der zahllosen Schnittverletzungen.
Zur Anamnese erfährt er vom Vater des Jungen, dass dieser die gemeinsame Wohnung etwa fünf Stunden zuvor verlassen hatte, um zum Arbeitsamt zu gehen. Erkrankungen des Sohnes seien ihm nicht bekannt.
Die orientierende Untersuchung ergibt eine Herzfrequenz von 128/min sowie einen Blutdruck von 110/80. Die Haut des Patienten ist heiß und schweißig. Im Monitor-EKG findet sich eine Sinustachykardie. Während der Notarzt eine Venenverweilkanüle anlegt, wird mit dem ersten Bluttropfen ein Blutzuckerstreifentest durchgeführt. Der Teststreifen verfärbt sich nicht, auch nicht bei einer erneuten Kontrolle.
Auf Nachfragen beim Vater, ob der Junge vielleicht an Zuckerkrankheit leide, berichtet dieser schließlich, dass seit vier Jahren ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus bestünde, den sein Sohn aber sehr gut „im Griff habe”.
Mit der Verdachtsdiagnose hypoglykämischer Schock injiziert der Notarzt langsam 50 ml einer 25 %ige Glukoselösung. Der danach durch Punktion der Fingerbeere erneut gemessene Blutzucker ergibt einen Wert von 20 mg/dl. Erst nach Injektion von insgesamt 200 ml der Glukoselösung lässt sich ein annähernd normaler Blutzucker von 90 mg/dl messen.
Unter diesen Maßnahmen hat sich der agitierte Komazustand in ein ruhiges Koma verwandelt; der Patient wird jedoch nicht ansprechbar. Daher erfolgt der Entschluss zur orotrachealen Intubation, die auch ohne Gabe von Analgetika oder Sedativa gelingt. Die blutenden Hautverletzungen werden mit sterilen Kompressen abgedeckt und diese mit Mull fixiert. Kurz vor dem Transport zum NAW wird erneut der Blutzucker bestimmt und ergibt einen Wert von 40 mg/dl. Daher erfolgt der Entschluss zur Dauerinfusion einer 10 %igen Glukoselösung mit etwa 250 ml/h während des Transportes. Weitere Blutzuckerkontrollen ergeben jeweils niedrignormale Werte.
In der Klinik werden die Hautverletzungen gereinigt, die Glassplitter entfernt und nach Ausschluss weitergehender Verletzungen erfolgt die Verlegung auf die internistische Intensivstation mit der Diagnose protrahierter hypoglykämischer Schock.
Nach telefonischer Aufforderung an den Vater, die Wohnung nach den Insulinvorräten seines Sohnes zu durchsuchen, findet dieser schließlich leere Ampullen mit einer Gesamtdosis von etwa 1200 IE Alt- und Verzögerungsinsulin in der Nachttischschublade.
Unter Fortführung der Beatmung und kontinuierlicher Glukoseinfusion in einer Dosis, die den Blutzucker gerade normalisiert, erwacht der Junge schließlich nach über 24 h und kann bei guter Lungenfunktion extubiert werden. Eine anfänglich bestehende Aphasie bildet sich rasch zurück und nach weiteren 16 Stunden ermittelt der Psychiater, dass der junge Patient sich mit der Tatsache, zuckerkrank zu sein, nicht abfinden kann. Deshalb hatte er sich seine gesamten Insulinvorräte subkutan injiziert.
Priv.-Doz. Dr. Frank Martens
Charité, Campus Virchow Klinikum
Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
eMail: frank.martens@charite.de