Dtsch Med Wochenschr 2000; 125(30): 918-919
DOI: 10.1055/s-2000-7041
Dauer und Wandel - 125 Jahre DMW
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

»Selbstmord« oder »Veredelung« der Rasse

Empfängnisverhütung und Ärzteschaft bis zur Einführung der OvulationshemmerR. Bröer,
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

»Der Geburtenrückgang ist zweifellos eine schwere Krankheit am sozialen Körper der Kulturvölker. ... Ich persönlich bekenne mich zu der Ansicht, dass der erschreckende Sturz der Geburtenziffer in Deutschland ganz wesentlich ein ethisches Problem ist. Das Streben nach gesteigertem Wohlstand und Wohlleben, die Scheu vor den Beschwerden der Schwangerschaft und Mutterschaft, die Verminderung des Verantwortungsgefühls gegenüber der Allgemeinheit sind die Triebfedern« [1].

Mit diesen Worten gab der städtische Kinderarzt in Barmen Theodor Hoffa 1915 in der DMW einer weitverbreiteten Furcht vor dem Aussterben des deutschen Volkes Ausdruck. Hoffa führte den beklagten Geburtenrückgang auf Empfängnisverhütung (und Abtreibung) zurück, eine Praxis, die er sich nur durch »sittliche Degeneration« erklären konnte. Doch nicht nur um die Quantität, sondern auch um die Qualität des Volkes sorgte sich Hoffa. Ein wachsender Anteil von Erstgeborenen sei bedenklich, man wisse ja, dass »die erstgeborenen und namentlich die einzigen Kinder nicht nur meist in körperlicher, sondern auch in intellektueller Beziehung den spätgeborenen nachstehen und ganz besonders schwer aufzuziehen und zu erziehen sind.« Der Vorsitzende der Gesellschaft für soziale Medizin, Paul Mayet, hatte schon 1908 in der DMW durch die »Herabsetzung der ehelichen Konzeptionsziffer bei Gleichbleiben der unehelichen ein Ueberwiegen hygienisch belasteter Individuen« befürchtet [2].

Literatur:

  • 1 Hoffa T. Die Stellung der Aerzte zur Frage des Geburtenrückgangs.  Dtsch. Med. Wschr.. 1915;  41 1340-1342
  • 2 Mayet P. Konzeptionsbeschränkung und Staat(Vereinsbericht: Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. Sitzung am 26. März 1908).  Dtsch. Med. Wschr. 1908;  34 1411-1412
  • 3 Sommerfeld T. Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik, Berlin, 18.X.15.  Dtsch. Med. Wschr. 1915;  41 1355-1356
  • 4 Marcuse M. Zur Stellung des Arztes gegenüber der Geburtenbeschränkung.  Dtsch. Med. Wschr. 1916;  42 259-261
  • 5 Hamburger C. Die Frage der Konzeptionsbeschränkung in Arbeiterfamilien (Vereinsbericht: Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin. Sitzung am 16. Januar 1908).  Dtsch. Med. Wschr. 1908;  34 221
  • 6 Diskussion über den Vortrag des Herrn C. Hamburger über die Frage der Konzeptionsbeschränkung in Arbeiterkreisen (Vereinsbericht: Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin. Sitzung am 13. Februar 1908).  Dtsch. Med. Wschr. 1908;  34 719
  • 7 Schluß der Diskussion über den Vortrag des Herrn C. Hamburger: Konzeptionsbeschränkung in Arbeiterkreisen Vereinsbericht: Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin. Sitzung am 27. Februar 1908).  Dtsch. Med. Wschr. 1908;  34 1210-1211
  • 8 Weingart P, Kroll J, Bayertz K. Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Suhrkamp Frankfurt/M.; 1988
  • 9 Gesenius H. Empfängnisverhütung. Urban & Schwarzenberg München, Berlin; 1959
  • 10 Braitenberg-Zenoberg H. In memoriam Hermann Knaus.  Wiener Medizinische Wochenschrift. 1970;  120 908-910
  • 11 Döring K P. Die Geschichte der Rhythmusmethode zur Empfängnisverhütung. Diss. Med München; 1978
  • 12 Knaus H. Ueber den Zeitpunkt der Konzeptionsfähigkeit des Weibes im Intermenstruum.  Münch. Med. Wschr. 1929;  76 1157-1160
  • 13 Ogino K. Ovulationstermin und Konzeptionstermin.  Zentralblatt für Gynäkologie. 1930;  54 464-479
  • 14 Engelmann  F. Gibt es eine empfängnisfreie Zeit im Sexualzyklus der Frau?.  Dtsch. Med. Wschr. 1932;  58 1969-1972
  • 15 Knaus H. Die periodische Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit des Weibes. Der Weg zur natürlichen Geburtenregelung. Maudrich Wien; Beilage: Menstruationskalender. Über die Notwendigkeit kalendermäßiger Aufschreibung des Eintritts der Regelblutungen 1934
  • 16 Knaus H. Geburtenregelung auf natürlichem Wege.  Wiener klinische Wochenschrift. 1934;  47 26-28
  • 17 Kaiser R B. The Politics of Sex and Religion. Leaven Press Kansas City; 1985
  • 18 Noonan J T Jr. Contraception: A History of Ist Treatment by the Catholic Theologians and Canonists. Belknap Press Cambridge/Mass; 1966
  • 19 Weber L M. Geburtenregelung und katholisches Ethos.  Arzt und Christ. 1957;  3 46-53
  • 20 Niedermeyer A. Zur sozialhygienischen Würdigung des Geburtenrückgangs.  Wiener Medizinische Wochenschrift. 1956;  106 343-345
  • 21 Pius XII. Probleme der Vererbung vor dem christlichen Gewissen (Ansprache an die Teilnehmer des 7. Internationalen Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Hämatologie: 12. September 1958). Paulusverlag Freiburg/Schweiz; In: Pius XII.: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Bd. 3. Hg. v. Arthur-Fridolin Utz u. Joseph-Fulko Groner 1961: 3202-3214.
  • 22 Köstering S. "Etwas Besseres als das Kondom". Ludwig Haberlandt und die Idee der Pille. In: Die Pille. Von der Lust und von der Liebe. Hg. für das Deutsche Hygiene-Museum von Gisela Staupe und Lisa Vieth Berlin; Rowohlt 1996: 113-126.
  • 23 Asbell B. Die Pille - und wie sie die Welt veränderte. Antje Kunstmann München; 1996
  • 24 Kaiser  R. Hormonale Ovulationshemmung.  Dtsch. Med. Wschr. 1963;  88 2325-2330
  • 25 Diskussion (Abdruck der Ulmer Ärztedenkschrift).  Arzt und Christ. 1964;  10 237-243
  • 26 Enzyklika Papst Pauls VI. über die Geburtenregelung (Abdruck des Textes).  Herder-Korrespondenz. 1968;  22 418-424
  • 27 Knaus H. Zum Gebrauch der "Pille" als Antikonzipiens.  Medizinische Klinik. 1968;  63 447-450

Dr med. Ralf Bröer

Institut für Geschichte der Medizin

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