Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(10): 287-289
DOI: 10.1055/s-2001-11741-3
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erwiderung

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Publication Date:
28 April 2004 (online)

Zur Zuschrift Nr. 1

Es läge ein bedauerliches Missverständnis vor, würde unser Beitrag zur erkenntnistheoretischen Problematik des Evidenzbegriffes [8] interpretiert, als sei er durch einen idealistischen Wahrheitsbegriff motiviert. Er versuchte im Gegenteil, vor einer idealistischen (absoluten) Wahrheitskonzeption zu warnen, die anklingt, wenn der Begriff »Beweis« (Beweis-gestützte Medizin) verwendet wird.

In der Tat gilt die Konzeption einer absoluten, Kontext-unabhängigen und damit Beobachter-unabhängigen Wahrheit erkenntnistheoretisch als obsolet. Nach der hermeneutischen Logik von Lipps erfolgen Schlüsse immer nur innerhalb von sozialen, theoretischen und zeitlich veränderlichen Kontexten. Wahrheit existiert also nur Kontext-abhängig, und die Kenntnis des Kontextes ist wichtig zur Wertung eines Schlusses [7]. Der Wahrheitsgehalt einer klinischen Studie oder einer medizinisch-wissenschaftlichen Untersuchung muss, da er nicht Beobachter- oder Kontext-unabhängig ist, nach Maßstäben bemessen sein. In diese aber müssen Wertungen eingehen. Was man erhält, wenn man die Wissenschaft auf diese Maßstäbe hin untersucht (wie z. B. die Gründe für das rationale Akzeptieren eines Ergebnisses), ist das Bild einer Wissenschaft, die ein reichhaltiges Wertsystem voraussetzt: »Wenn wir uns das Ideal der rationalen Akzeptierbarkeit anschauen, wie es sich durch Betrachtung der Theorien offenbart, deren Akzeptierung von Wissenschaftlern und gewöhnlichen Menschen für rational gehalten wird, so erkennen wir, dass es uns in der Wissenschaft um den Versuch geht, eine Repräsentation der Welt zu konstruieren, die die Kennzeichen der instrumentellen Leistungsfähigkeit, der Kohärenz, der Komplettheit und der funktionalen Einfachheit besitzt« [5]. Weder die hermeneutische Erkenntnistheorie noch Hilary Putnam, von dem die zitierte Einschätzung stammt, bestreiten, dass es für unser Wissen einen »Input« durch Erfahrung gibt. Diese »Inputs« sind aber durch die besprochenen Begriffssysteme und Konzeptionen geformt und lassen zudem verschiedene Beschreibungen zu.

Uns schwebte kein idealistisches Wahrheitskonzept vor, sondern dieses war gerade einer der Kernpunkte der Kritik. Die Erläuterung des Evidenz- und Wahrheitskonzeptes von Brentano und die Darstellung der Kritik Poppers diente der historischen Herleitung des Evidenzbegriffes und war nicht Ausdruck unserer Meinung. Auf die Relativität von Wahrheit und die damit verbundenen Konsequenzen wies auch das abschließende Zitat von Alfred N. Whitehead hin.

Vielen Aussagen von Sertl stimmen wir zu. Er selbst scheint die Bedeutung der EbM zu relativieren, sie aber als brauchbares Instrument bei der Behandlung seiner Patienten anzusehen. Vergleichbar ging es uns darum, anzuzweifeln, »dass in der Evidence-based Medicine der Prozess der Rationalisierung der Weltbeherrschung durch Wissenschaft und Technik seinen vorerst letzten Ausdruck gefunden hat« [6], da hier die Möglichkeiten der EbM weit überschätzt werden.

Literatur

  • 1 Frankel S, Smith G D. Evidence-based medicine and treatment choices.  Lancet. 1997;  349 571
  • 2 Linde K, Clausius N, Ramirez G. et al . Are the clinical effects of homeopathy placebo effects.  Lancet. 1997;  350 834-843
  • 3 Massel D. Evidence based budgeting is now necessary (Letter).  Brit Med J. 1999;  319 384
  • 4 Maynard A. Evidence-based medicine.  Lancet. 1997;  349 126-128
  • 5 Putnam H. Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1990: 181
  • 6 Raspe H H. Evidence-Based Medicine: Modischer Unsinn, alter Wein in neuen Schläuchen oder aktuelle Notwendigkeit. Stuttgart: Franz Steiner Verlag In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz; Abhandlungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, Nr 1 1998
  • 7 Rogler G. Die hermeneutische Logik von Hans Lipps und die Begründbarkeit von Wissenschaft. Würzburg: Ergon Verlag Spektrum Philosophie Band VIII, 255 Seiten, A. Baruzzi, A. Halder, K. Mainzer (Herausgeber) 1998
  • 8 Rogler G, Schölmerich J. »Evidence-biased Medicine« - oder: Die trügerische Sicherheit der Evidenz.  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 1122-1128
  • 9 Sackett D L, RB H aynes, P T ugwell. Clinical Epidemiology. Boston: Little, Brown & Company 1985
  • 10 Sackett D L. Evidence-based medicine.  Spine. 1998;  23 1085-1086

PD Dr. med. Dr. phil. Gerhard Rogler

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