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DOI: 10.1055/s-2001-11754
Sektionen - überflüssig wie ein Kropf?
Publication History
Publication Date:
31 December 2001 (online)
Seit einigen Jahren dreht sich in der Medizin alles um den Begriff: Qualitätskontrolle. Ausschüsse, Arbeitskreise, Zirkel sind eingerichtet worden, um Qualitätssicherung zu betreiben und zu garantieren, im SGB V ist sie in den §§ 135, 137 und 137 a, in SGB XI in § 80 vorgeschrieben und verankert. Es vergeht kein Kongress und kein Ärztetag ohne den allgemeinen Konsens, dass auf diesem Sektor immer noch zu wenig getan wird und entsprechende Verbesserungsvorschläge gemacht werden.
Gleichzeitig registrieren die Pathologen einen ständigen Rückgang der klinischen Obduktionen, während in der Rechtsmedizin die Zahl der gerichtlichen Sektionen, hinter denen ein »Kunstfehler-Vorwurf« von Hinterbliebenen steht, zunimmt. Nachdem auch von Seiten der Kliniker die Obduktion als Instrument der Qualitätskontrolle anerkannt ist, drängt sich die Frage auf: Ist das demonstrierte Bemühen um Qualität nur ein Lippenbekenntnis, ein Potemkinsches Dorf oder hat vielleicht die Obduktion als Mittel der Qualitätskontrolle ausgedient und man will den armen Pathologen nur die Wahrheit ersparen?
Zweifellos hat sich seit Virchows Zeiten die Bedeutung der klinischen Sektion verändert. Damals war sie Grundlage der Etablierung der Nosologie, einer auf dem anatomischen Gedanken beruhenden, naturwissenschaftlichen Krankheitslehre. Heute werden offene Fragen der Ätiopathogenese mit Methoden der Immunologie und Molekularbiologie untersucht. Aber wenn man weiß, worauf eine Krankheit zurückzuführen ist und man sie diagnostiziert hat, enthebt einem das nach dem Tode des Patienten der Pflicht, seine Meinung kritisch zu überprüfen?
Die Einführung neuer bildgebender Verfahren (CT, NMR, PET), laborchemische Untersuchungen, Endoskopie und Biopsie haben die Diagnostik in ungeahntem Umfang erweitert. Gerade dieses diagnostische »Allmachtsgefühl« verleitet offenbar zu Nihilismus bei der externen Qualitätskontrolle: In Deutschland lag 1995 die Sektionsrate bei gerade noch 1,2 % aller Verstorbenen, während sie Mitte der 80er-Jahre in der Bundesrepublik noch bei 5,6 %, in der DDR bei 18 % gelegen hatte. Die sog. »Görlitzer Studie«, bei der in einem umgrenzten regionalen Bereich 1986/87 ein Jahr lang 98 % aller Verstorbenen seziert worden waren, hatte ergeben, dass das Grundleiden bei autoptischer Kontrolle der Leichenschaudiagnose in 55 % der Fälle richtig, in 45 % aber falsch war. Dieses erschreckende Ergebnis wurde gerne abgetan mit dem Argument, die Untersuchung liege ja viele Jahre zurück und damals sei die DDR medizintechnisch weit zurückgelegen. Aber auch Studien in den 90er-Jahren wie z. B. die von Höpker und Wagner [1] in Hamburg, von Holzner [2] in Wien oder von Bleyl [3] haben ergeben, dass deutliche Diskrepanzen zwischen klinischer und autoptischer Diagnose bestehen. Auch wenn erstere oftmals nicht als falsch bezeichnet werden konnte, war sie doch korrektur-, ergänzungs- und verbesserungsbedürftig. Das bestätigt auch eine jüngst in »Lancet« publizierte Arbeit aus der Züricher Uni-Klinik [4]. Die Autoren hatten je 300 klinische und autoptische Diagnosen von Patienten der Jahre 1972, 1982 und 1992 verglichen. Auch wenn sich in dieser Zeit gravierende Diagnosefehler von 30 % auf 14 % halbierten, verdoppelten sich die weniger wichtigen diagnostischen Diskrepanzen von 23 auf 46 %.
Vor dem Hintergrund solcher Ergebnisse bleibt jede Diskussion um Qualitätskontrolle und Evidence-based Medicine oberflächlich und scheinheilig. Die Folgen betreffen aber nicht nur die Behandlung des einzelnen Patienten: Über falsche Diagnosen bei der Leichenschau wird die staatliche Todesursachenstatistik in die Nähe der Zufallswahrscheinlichkeit gerückt. Diese Statistik liefert aber wesentliche Impulse für die Gesundheitspolitik. Infektiologische Erkenntnisse oder, wie der Beitrag von Bankl et al. In diesem Heft zeigt, auch die Feststellung neuer Krankheitsbilder und damit auch sinnvolle Prävention unterbleiben, wenn nicht mehr regelmäßig seziert wird.
Wo müssen wir ansetzen? Seit Jahrzehnten beklagen Pathologen und Rechtsmediziner das Fehlen von Sektionsgesetzen, gravierende Mängel bei den Bestattungsgesetzen und nachlassendes Engagement der Kliniker für die Sektion als Mittel der Qualitätskontrolle. Während gerade einmal Berlin und Hamburg sich zu Sektionsgesetzen durchgerungen haben, wartet man seit Gründung der Bundesrepublik auf einheitliche Regelungen für die Leichenschau; es existiert noch nicht einmal dafür ein einheitliches Formular. Die Kosten der klinisch-pathologischen Sektionen bleiben in der Regel am Krankenhausträger hängen, obwohl auch die Krankenkassen nach dem SGB für Qualitätskontrolle und deren Kosten mitverantwortlich sind.
Die Tatsache, dass das Buch der »Zeit«-Journalistin Sabine Rückert: »Tote haben keine Lobby«, in dem diese herbe Kritik an der bundesdeutschen Gesetzeslage und der Realität der Leichenschau übte, zum Bestseller avancierte oder dass über die Übertragung und Epidemiologie der Prionen-Erkrankungen fast keine gesicherte Erkenntnisse vorliegen, sind nur Facetten eines Problems, dessen Regelung seit vielen Jahren aussteht. Jeder, dem die gegenwärtige Situation mit dem drastischen Rückgang klinischer Sektionen gleichgültig ist, trägt Mitschuld an einer fatalen Entwicklung.
Literatur
- 1 Höpker W -W, Wagner St. Die klinische Obduktion. Dtsch Ärztebl. 1998; 95 A1596-1600
- 2 Holzner J H. Klinische Autopsie - überholt oder aktuell?. Wien In: Steffinelli N (Hrsg.): Körper ohne Leben 630-639
- 3 Bleyl U. Klinische Fehlbeurteilung im Spiegel des Auftrags der Pathologie. In: Bauer AW (Hrsg.): Medizinische Ethik am Beginn des 21. Jahrhunderts. Theoretische Konzepte - klinische Probleme - ärztliches Handeln Heidelberg, Leipzig 1998
- 4 Sonderegger-Iseli K. et al . Diagnostik errors in three medical eras: Necropsy study. Lancet. 2000; 355 2027-1031
Prof. Dr. W. Eisenmenger
Institut für Rechtsmedizin der Universität
München
Frauenlobstraße 7a
80337 München