Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2001; 36(3): 168-170
DOI: 10.1055/s-2001-11819-2
MINI-SYMPOSIUM
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

T. Koch
  • Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie,
    Univ.-Klinikum Carl Gustav Carus, Dresden
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. April 2004 (online)

Das Wilhelmsbader Symposium '99 unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. P. M. Osswald stand unter dem Motto

Regionalanästhesie
Pharmakologie - Neurophysiologie - Klinische Schwerpunkte

Die Geschichte der Regionalanästhesie geht schon auf über 100 Jahre zurück, als August Bier die ersten Versuche zur Spinalanästhesie mit Kokain unternahm. Durch die Weiterentwicklung der Technik und die Einführung verträglicherer Lokalanästhetika sind die verschiedenen Regionalanästhesieverfahren heute Standardmethoden der anästhesiologischen Praxis.

Die Fortschritte in der Pharmakologie und der Neurophysiologie sowie die positiven klinischen Erfahrungen insbesondere bei Risikopatienten haben die Regionalanästhesie wieder zunehmend in das anästhesiologische Interesse gerückt. Die zahlreichen Erkenntnisse aus der Neurophysiologie, speziell auf zellulärer und molekularer Ebene, gestatten uns neue Einblicke in die Pathophysiologie des Schmerzes. Durch ein differenziertes Verständnis der pharmakologischen Interaktionen werden neue Substanzentwicklungen stimuliert mit dem Ziel einer höheren Selektivität, einer besseren Steuerbarkeit und höheren Patientensicherheit. Durch die pharmakologischen Möglichkeiten wie z. B. die Kombination von Lokalanästhetika und Opioiden bei rückenmarksnahen Anästhesien konnten die Analgesiequalität und der Patientenkomfort in vielen Fällen deutlich verbessert werden. Vorteile von Regionalverfahren ergeben sich durch die effektive Blockade nozizeptiver Afferenzen am peripheren Neuron. Dadurch wird die afferente Weiterleitung zu den zentralen schmerzverarbeitenden Zentren verhindert und die schmerzbedingte neuroendokrine Stressantwort auf Rückenmarksebene moduliert. Die technischen Verfeinerungen der Standardverfahren und der differenzierte Einsatz von Lokalanästhetika/Opioiden erlauben unter Beachtung der Grenzen und Risiken der Regionalverfahren eine sehr effiziente und sichere Anästhesie bzw. Analgesie für den Patienten. Die individuelle Aufklärung und das Abwägen von Vor- und Nachteilen im Hinblick auf den geplanten Eingriff und die postoperative Phase erhöhen die Akzeptanz beim Patienten und ermöglichen das beste Verfahren zum Nutzen und Wohle des Patienten auszuwählen.

Die folgenden Beiträge von kompetenten Referenten auf ihrem Gebiet zeigen den Status quo in Bereichen der Neurophysiologie, der Pharmakologie und der klinischen Anwendung und Wirksamkeit von Regionalanästhesieverfahren auf.

B. N. Graf berichtet über wichtige und neue Gesichtspunkte zur Pharmakologie und Toxikologie der Lokalanästhetika. Nach einem kurzen historischen Rückblick werden das pharmakologische Profil sowie toxikologische Aspekte des jüngsten Vertreters der Pipicoloxylididderivate Ropivacain dargestellt. Hierbei wird auf die Charakteristik der Stereoselektivität von Lokalanästhetika eingegangen und die klinische Relevanz des Einsatzes reiner optischer Isomere am Beispiel des Ropivacain aufgezeigt. Interessante Aspekte ergeben sich aus der in verschiedenen Experimentalmodellen nachgewiesenen geringeren Kardiotoxizität der S(-)-Isomere von Ropivacain und Bupivacain, deren klinische Anwendung in Zukunft zur Sicherheit des Patienten beitragen wird. Nach einigen Fallberichten konnte bei Intoxikationen mit lebensbedrohlichen kardialen Erregungsausbreitungsstörungen nach Ropivacain (reines S(-)-Isomer) eine raschere Stabilisierung der kritischen Situation und häufiger eine „Restitutio ad Integrum” im Vergleich zum klinisch verfügbaren Razemat von Bupivacain erreicht werden.

Entscheidend für die klinische Praxis ist die analgetische Potenz. Während bei epiduraler Applikation eine nahezu äquipotente analgetische Wirkung beschrieben wird, scheint die deutlich geringer ausgeprägte motorische Blockade nach Ropivacain in niedrigen Konzentrationen Vorteile gegenüber Bupivacain bei der Anwendung zur postoperativen Schmerztherapie und zur geburtshilflichen Analgesie zu bieten. Die Differentialblockade von Ropivacain resultiert nicht aus der Stereoselektivität sondern wird auf die unterschiedliche Pharmakokinetik der Substanz zurückgeführt. Ob das Pipicoloxylididderivat Ropivacain durch die experimentell nachgewiesene erhöhte therapeutische Breite dem Butylderivat Bupivacain in der klinischen Anwendung überlegen ist, müssen zukünftige Studien zeigen.

Frau R. L. Moser beschäftigt sich mit der postoperativen kognitiven Dysfunktion bei geriatrischen Patienten, ein sehr häufiges Problem, das nach Angaben in der Literatur mit einer Inzidenz bis zu 60 % angegeben wird. Dieser vielfältige Symptomenkomplex von leichten Einschränkungen kognitiver Funktion bis zum Vollbild des Deliriums gefährdet den Patienten erheblich und resultiert häufig in weiteren postoperativen Komplikationen, die den Genesungsprozess deutlich verzögern und zu einer verlängerten Aufenthaltsdauer in kostenintensiven Bereichen führen. Pathophysiologisch wird eine diffuse reversible Beeinträchtigung des zerebralen oxidativen Metabolismus, bedingt durch Gewebshypoperfusion, angenommen. Als ätiologische Faktoren werden nach dem aktuellen Kenntnisstand die Art der Operation, pharmakologische Faktoren, hirnorganische und kardiovaskuläre Vorerkrankungen, metabolische Störungen, Infektionen, psychologische Faktoren sowie die angewandte Anästhesietechnik angenommen. Die kritische Frage, ob Regionalanästhesieverfahren mit einer geringeren Inzidenz kognitiver Dysfunktionen einhergehen, wird anhand der vorliegenden Studienergebnisse diskutiert. Sie kann jedoch aufgrund der zur Zeit noch limitierten Daten nicht eindeutig beantwortet werden. Prophylaktisch sind eine adäquate Prämedikation, eine suffiziente Schmerzbekämpfung, Aufrechterhaltung eines ausreichenden zerebralen Perfusionsdruckes und der Ausgleich metabolischer Störungen sowie die Vermeidung potentiell delirogener Substanzen von entscheidender Bedeutung.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu peripheren Opioidrezeptoren werden eindrucksvoll am Beispiel einer Studie bei zahnchirurgische Patienten von R. Likar präsentiert. So scheint für die peripher analgetische Wirkung von lokal applizierten Opioiden eine Entzündungsreaktion eine wichtige Voraussetzung zu sein. Diese Erkenntnis aus tierexperimentellen Untersuchungen konnte auch unter klinischen Bedingungen bestätigt werden. Interessante therapeutische Ansatzpunkte ergeben sich hier durch die weitgehend nebenwirkungsarme lokale Opioidapplikation bei schmerzhaften Entzündungsprozessen.

Durch den zunehmenden ökonomischen Druck im Gesundheitswesen gewinnt die Frage nach der Effektivität und dem Kosten-Nutzen-Verhältnis immer mehr an Bedeutung. Im Beitrag von Frau T. Koch werden die Regionalverfahren unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten analysiert. Entscheidend hierbei ist die Beurteilung der gesamten perioperativen Phase, da die postoperative Morbidität und das Outcome durch die Verweildauer in kostenintensiven Bereichen gravierend die Behandlungskosten determinieren. Bestimmt wird die perioperative Morbidität durch die patho- und neurophysiologischen Auswirkungen des Eingriffes einerseits und deren Interaktionen mit dem Anästhesieverfahren andererseits. Auch wenn bisher keine Studie nachweisen konnte, dass eine Anästhesietechnik den übrigen generell überlegen ist, zeichnen sich nach neueren Untersuchungen Vorteile der rückenmarksnahen Regionalanästhesieverfahren gegenüber der Allgemeinanästhesie hinsichtlich der Anästhesiequalität und der Modulation der perioperativen Stressreaktion, insbesondere bei kardiovaskulären Vorerkrankungen, ab. Die Vor- und Nachteile von Regionalverfahren werden unter Berücksichtigung aktueller Studienergebnisse analysiert und diskutiert. Ökonomische Vorteile von Regionalverfahren werden durch die in einigen Studien belegte geringere Morbidität und der früheren Entlassung von Intensiv- bzw. Wachstationen evident.

Ein wesentlicher Vorteil von Katheteranästhesieverfahren ist die Nutzung für die postoperative Analgesie. Die Effektivität und die Akzeptanz beim Patienten wird jedoch entscheidend von der präoperativen Aufklärung und Einweisung in die Applikationstechnik und der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Anästhesie und den operativen Stationen bestimmt. Neben der kontinuierlichen Applikation bzw. der intermittierenden durch ärztliches Personal verabreichten Bolusapplikation von Lokalanästhetika/Opioiden, sind die patientenkontrollierten Analgesiekonzepte (PCA) in vielen Kliniken etabliert. Herr A. Kopf stellt die intravenöse und rückenmarksnahe PCA dar und diskutiert kritisch die postulierten Vorteile der Kontrolle durch den Patienten, die in einer verbesserten Analgesiequalität, höheren Patientenzufriedenheit und Abnahme des Analgetikaverbrauches mit Verminderung der unerwünschten Wirkungen von Lokalanästhetika und Opioiden bestehen sollen. Bei differenzierter Analyse der publizierten Daten und der eigenen Erfahrungen scheint die sorgfältige Patientenauswahl und -schulung sowie die Betreuung durch einen 24 h verfügbaren Schmerzdienst Voraussetzung für den Erfolg der patientenkontrollierten Verfahren zu sein. Alternative Verfahren wie die arzt- bzw. pflegekontrollierte Analgesie werden vom Autor als gleichwertig eingestuft. Kontinuierliche Infusionstechnik wird für die peridurale Katheteranalgesie während der ersten 24 Stunden als effektiveres Verfahren empfohlen. Abschließend bleibt zu bemerken, dass in erster Linie die organisatorischen und personellen Voraussetzungen von Akutschmerzkonzepten, unabhängig von dem verwendeten Applikationsmodus, die Effizienz und die Patientenzufriedenheit bestimmen.

Die Einsatzmöglichkeiten und Vorteile der Regionalanästhesie in der Gefäßchirurgie werden überzeugend von Herrn Gerber dargestellt. Patienten mit peripheren Gefässeingriffen profitieren in besonderem Maße von rückenmarksnahen Regionalverfahren, da aus der verminderten sympathikoadrenergen Stressreaktion auch eine geringere Gerinnungsaktivierung bei gleichzeitiger Verbesserung der Perfusion und der Blutrheologie mit Reduktion thrombotisch okklusiver Komplikationen resultiert. Für die klinische Praxis werden die Besonderheiten bei der Durchführung von rückenmarksnahen Regionalverfahren unter Berücksichtigung der spezifischen Risiken bei Gefäßpatienten herausgearbeitet. Besonderes Augenmerk wird auf die präoperativ verabreichte und intra- bzw. postoperativ geplante Antikoagulation sowie das adäquate labordiagnostische Monitoring gelegt.

Zusammenfassend ist es den Veranstaltern dieses Symposiums gelungen, durch die Auswahl der Themen und Referenten neue richtungsweisende Aspekte aus den verschiedenen Bereichen der Schmerzphysiologie, der Pharmakologie und der klinischen Anwendung aufzuzeigen und zahlreiche Impulse für die tägliche Praxis der Regionalanästhesie zu liefern. Die lebhafte Diskussion der Themen mit den Teilnehmern reflektierte das große Interesse an der Thematik.

Prof. Dr. med. Thea Koch

Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie
Univ.-Klinikum Carl Gustav Carus

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

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