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DOI: 10.1055/s-2001-12382
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Das Modell der nichttrivialen Maschine oder die semiotische Alternative
Anmerkungen zu Th. v. Uexkülls und W. Wesiacks Versuch einer theoretischen Grundlegung der HumanmedizinPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)
Zusammenfassung
Die Autoren diskutieren die zeichentheoretische Grundlegung der Humanmedizin, die von v. Uexküll u. Wesiack versucht wurde, und kritisieren diesen Versuch insbesondere in drei Punkten: 1. Zentralbegriffe ihres Modells - wie „Bedeutung”, „Zeichen” oder „Zeichenkopplung” - werden nur als Klassenbegriffe und nicht in jener Differenziertheit verwendet, die in der Semiotik üblich ist. 2. Menschliches Verhalten wird auf bedingt-reflektorische Zusammenhänge reduziert, die in einem semiotischen Gewande lediglich anders beschrieben werden. 3. Die epistemischen Probleme, die sich aus der erkenntnistheoretischen Postion eines radikalen Konstruktivisums ergeben, auf dessen Grundlage v. Uexküll u. Wesiack ihr Modell einer „bio-psycho-sozialen Medizin” entwickeln, bleiben nicht nur ungelöst, sondern auch unerörtert.
The Model of a Non-Trival Machine or the Semiotic Alternative
The authors discuss the attempt by v. Uexküll and Wesiack to formulate the basics of human medicine within the framework of a sign theory. They criticize this attempt mainly in three points: 1. Central concepts of their model - i. e. „mean-ing”, „sign” or „signcoupling” - are only used as general concepts and not in the differentiated manner they are conventionally used in semiotics. 2. Human behavior is reduced to conditioned reflex systems which are merely described in a different, semiotic way. 3. Problems evolving from the epistemology of a radical constructivism on which their model of a „bio-psycho-social medicine” is based, remain not only unsolved but also undiscussed.
Key words
Sign theory - Biosemiotics - Human medicine - Critique
Literatur
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1 Wir werden uns im Folgenden auf dieses Einleitungskapitel beziehen.
2 Die Kursivierungen, welche die Autoren in die verwendeten Zitate eingetragen haben, werden durchgängig vernachlässigt.
3 Offensichtlich ist in der Auffassung v. Uexkülls u. Wesiacks in den vergangenen 20 Jahren in dieser Hinsicht nicht viel geschehen, denn sie wiederholen hier ihre Formulierung von 1979 ([2], S. 7): „Psychosomatische Medizin kann … nicht auf eine Theorie der Heilkunde zurückverweisen, die somatische, psychische und soziale Faktoren in Zusammenhang bringt … denn die heutige Medizin besitzt eine derartige Theorie noch nicht, sie besitzt nur verschiedene - einander widersprechende - Theorien”.
4 ,,Als lebendes System besteht der Patient aus Subsystemen verschiedener Integrationsebenen, die alle durch Nachrichtennetze mit ihrer Umgebung und den benachbarten Subsystemen verbunden sind. Jedes dieser Subsysteme verwandelt Einwirkungen auf seine Rezeptoren nach einem anderen Kode in Zeichen bzw. Nachrichten. Daher gehören Zeichen, die auf verschiedenen Integrationsebenen zwischen den dort angesiedelten Systemen ‚ausgetauscht’ werden, verschiedenen Zeichensystemen, gewissermaßen verschiedenen ‚Sprachen’, an” ([1], S. 31).
5 Unter Verweis auf Jakobson [3] schreiben v. Uexküll u. Wesiack ([1], S. 43): „Transmutation” meint die „Übersetzung von einem nicht-sprachlichen in ein sprachliches … oder in ein anderes nichtsprachliches Zeichensystem”, und wird von der „Interpretation” - der „Übersetzung in ein und derselben Sprache” - und den „Übersetzungen von einer Sprache in eine andere” unterschieden.
6 ,,Eine Handlung läuft also stets nach folgendem Schema ab: - Ein Ausschnitt der mich umgebenden Welt wird aufgrund eines Motivs gedeutet. - Das Gedeutete gibt mir bestimmte Handlungsanweisungen. - Im Umgang mit der Welt erfolgt eine Prüfung, ob die Deutung und die Handlungsanweisung richtig waren” ([1], S. 17).
7 ,,Da wir Realität nicht in einem erfahrungsunabhängigen Bereich finden oder festmachen können, müssen wir sie in Erfahrungshandlungen erzeugen” ([1], S. 25).
8 ,,Das Sexualziel des infantilen Triebes besteht darin, Befriedigung durch die geeignete Reizung der so oder so gewählten erogenen Zone hervorzurufen. Diese Befriedigung muss vorher erlebt worden sein, um ein Bedürfnis nach ihrer Wiederholung zurückzulassen …. Die Veranstaltung, welche diesen Zweck für die Lippenzone erfüllt …, ist die gleichzeitige Verknüpfung dieser Körperstelle mit der Nahrungsaufnahme” ([11], S. 85, s. auch [12], S. 153, [13], S. 24, [14], S. 221, [15], S. 70).
9 Fries [8] bspw. schreibt: „There is incomplete myelinization of the nervous system and almost none of the cerebral cortex at birth. Consequently it is a prepsychic period. The infant responds with reflexes of the lower brain stem and spinal cord”. Compton [6] fasste die Befundlage zusammen: „On neuroanatomical and neurophysiologic grounds, there is good reason to assume that no psychic experience of affect is possible before the age of about three months”, und auch Spitz ([18], S. 24), auf den sich v. Uexküll in einem anderen Zusammenhang beruft, ist der Ansicht, dass der Organismus des Neugeborenen „noch keine … psychischen Funktionen (hat), seien sie bewusst oder unbewusst” und auch noch nicht über „emotions and affects” verfüge [19].
10 Morris ([17], S. VIII) spricht in diesem Zusammenhang vom „Wert” oder „Bedeutendsein” des Objekts für das Subjekt.
11 So ist der „Interpretant” - bspw. „die Vorstellung eines Apfels” - die „Bedeutung” des „Zeichen”, des „farbigen Etwas im Geäst eines Baumes” ([1], S. 23), und zugleich wird Bedeutung im Sinne J. v. Uexkülls verstanden. Dieser schrieb: „Da nur diejenigen Wirkungen, die für das betreffende Lebewesen von Bedeutung sind, in einem Zentralnervensystem in Nervenerregung umgewandelt werden, steht die Frage nach der Bedeutung bei allen Lebewesen an oberster Stelle” ([1], S. 27).
12 Hier zeigt sich, dass der Konstruktivismus v. Uexkülls u. Wesiacks in einer petitio principii endet, denn die Subjekte, die sich als Konstruktivisten konstruieren, müssen schon Konstruktivisten sein, um sich als Konstruktivisten konstruieren zu können. Folgt man der Logik des Konstruktivismus, dann stößt man auf dieselbe petitio principii, wenn man nach der Entstehung des Konstruktivismus fragt. Noch ehe er exisistiert, muss er bereits vorhanden sein.
13 Daraus ergibt sich, dass sich in der Aussage v. Uexkülls u. Wesiacks ([1], S. 16), es sei unmöglich, „‚Realität’ in einem erfahrungsunabhängigen Bereich zu verankern”, der Terminus „Realität” nicht auf eine wirklich vorhandene, sondern nur auf die von ihnen konstruierte Realität beziehen kann.
14 Die These, dass die Bedeutungen die Gegenstände konstituieren, ist nicht neu. Sie geht auf Husserl zurück und wurde vor allem von Mead [29] aufgegriffen. Nach Mead ist der Gegenstand nichts anderes als seine Bedeutung für das Verhalten und durch seine Bedeutung lösen sich die Gegenstände aus einer neutralen Erfahrung he-raus, in der sie noch nicht unterschieden sind.
15 Rubinstein ([30], S. 35) diagnostizierte diesen Zusammenhang als Zentraltopos idealistischer Erkenntnistheorie: „Das Hauptargument des Idealismus besteht in Folgendem: Im Erkenntnisprozess können wir keinesfalls aus den Empfindungen, den Wahrnehmungen, den Gedanken ‚herausspringen’, das heißt, wir können nicht in die Sphäre der Dinge gelangen; darum müsse zugegeben werden, dass nur die Empfindungen und Wahrnehmungen das einzig mögliche Objekt der Erkenntnis sind. Diesem ‚klassischen’ Argument des Idealismus liegt der Gedanke zugrunde, dass man, um in die Sphäre der realen Dinge zu gelangen, aus der Sphäre der Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken ‚herausspringen’ müsse, was der Erkenntnis natürlich unmöglich ist. Dieser Gedankengang setzt von vornherein voraus, dass Empfindungen und Wahrnehmungen subjektive Gebilde sind, die zu den Dingen, zur objektiven Realität, nur in einem äußeren Verhältnis stehen.”
16 Kosing [32] formulierte diesen Sachverhalt so: „Die im Prozess der praktischen und geistigen Aneignung der Wirklichkeit durch das gesellschaftliche Subjekt sich herausbildenden, historisch geprägten Formen der menschlichen Sinnes- und Verstandestätigkeit treten den (zu erkennenden) Objekten stets als ein fertiges Prisma gegenüber, durch welches die Objekte gebrochen werden, d. h. sie spielen die Rolle eines gesellschaftlichen funktionalen a priori im Erkenntnisprozess”.
17 Im Grunde ist jedoch die von v. Uexküll u. Wesiack vertretene erkenntnistheoretische Position eine Spielart des - subjektiven - Idealismus, dessen epistemische Position ein Jahr vor Giambattista Vico Berkeley [33] formulierte. Diderot ([34], S. 498) belegte diese Position mit dem Begriff „Idealismus”, und schrieb in seinem „Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient” unter Bezug auf Berkeley: „Idealisten nennt man jene Philosophen, die sich nur ihrer eigenen Existenz und der Empfindungen, die in ihrem eigenen Innern aufeinander folgen, bewusst sind und deshalb nichts anderes gelten lassen … Ein System, das … das allerabsurdeste ist.”
Univ.-Prof. Dr. med. Siegfried Zepf
Dr. med. Sebastian Hartmann
Institut für Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin
Universitätskliniken des Saarlandes Gebäude 2
66421 Homburg/Saar