Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(17): 481-482
DOI: 10.1055/s-2001-13052
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Fortschritt in der Chirurgie - Fortschritt in den Köpfen

Progress in surgery - progress in people¿s mindsM. Rothmund
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Prof. Dr. M. Rothmund, Schriftleiter der DMW, Herausgeber dieses Heftes

Vor einigen Wochen hat der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen die ersten Bände seines Gutachtens für 2000/2001 vorgelegt. Kurz zusammengefasst wird darin ausgesagt, dass das deutsche Gesundheitswesen weniger leistet als es leisten könnte. Die Sachverständigen kamen zu dem Schluss, dass die vorhandenen Mittel nicht effizient genug genutzt und Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsreserven nicht ausgeschöpft werden ([7], [8]). Mit anderen Worten: Das deutsche Gesundheitssystem könnte, ohne teurer zu werden, sehr viel Besseres leisten. Dies wird gemessen an »Gesundheitsindikatoren« wie z. B. der Lebenserwartung in vergleichbaren Industrieländern. Gefordert wird vor allem eine Rezertifizierung, d h. eine Überprüfung des fachrelevanten Wissens eines Arztes während der ganzen Zeit seiner Berufsausübung, denn es wurde festgestellt, dass sich nur etwa 50 % der Ärzte regelmäßig fortbilden (P. C. Scriba, pers. Mitteilung).

Insidern im Gesundheitswesen ist das alles nicht neu. Eine bessere Gesundheitserziehung der Bevölkerung, eine gründlichere Aus-, Weiter- sowie vor allem Fortbildung der Ärzte und nicht zuletzt ein Einsatz von medizinischen Geräten, der nicht die Amortisation der Investition zum Ziel hat, sondern nach Leitlinien orientiert und medizinisch begründet ist, könnten zu einem sinnvolleren Einsatz von Ressourcen führen. Hinzu kommen müsste mehr Transparenz der ärztlichen Leistungen und ihrer Kosten. Denkbar wäre, dass Patienten eine Rechnung im Klartext erhalten, die sie möglicherweise sogar zunächst selbst bezahlen, bevor eine Versicherung den Betrag ersetzt. Mit Hilfe solcher Maßnahmen würde auch der Fortschritt bezahlbar.

Fortschritt in der Medizin, speziell in der Chirurgie, wird von manchen Ärzten, von vielen Medizinjournalisten und von fast allen durch diese Berufsgruppen mehr oder weniger gut informierten Patienten mit technologischem Fortschritt gleichgestellt. Gepriesen werden Hightech-Geräte wie die MR-Tomographie, Rechner-gestützte 3D-Rekonstruktionen oder PET. Ohne sie gilt Diagnostik als nicht mehr zeitgemäß. Patienten möchten heute mit Laser oder Roboter-unterstützt operiert werden und nehmen an, damit besser behandelt zu werden als mit konventionellen Therapiemethoden. Der Fortschrittsglaube ist enorm.

Dabei setzt die medizinisch sinnvolle Einführung neuer Technologien eine professionelle Bewertung voraus, bevor der Markt bedient wird. Eine solche Prüfung, etwa durch prospektive klinische Studien im Vergleich mit dem bisherigen Standard, finden vor einer breiten Einführung jedoch selten statt. Die Kassen zahlten in der Vergangenheit lieber ungesicherte neue Verfahren aus einem »Innovationsfonds« als klinische Prüfungen zu finanzieren.

Der naive Beobachter stellt sich die Einführung einer neuen Technologie folgendermaßen vor:

Wissenschaftler entwickeln ein neues Diagnose- oder Therapieverfahren oder eine neue Technologie, die zu einem von beiden dient. Sie kooperieren dazu mit der Industrie, entweder von Anfang an oder spätestens dann, wenn an eine Markteinführung gedacht wird. Die Firma entwickelt das Gerät zur Serienreife, lässt es in Institutionen prüfen, in denen das relevante Krankheitsbild häufig vorkommt und die wissen, wie man eine Technologie wissenschaftlich evaluiert, und bietet die Technologie dann auf dem allgemeinen Markt an, wenn die Studien positiv ausgefallen sind, d. h. wenn sie dem Patienten rascher oder besser als die bisherigen Technologien hilft und - wichtig für die Kassen - kosteneffektiv ist.

Die Praxis ist anders. Sobald eine Technologie, z. B. ein Gerät, in der Firma geprüft und seine Sicherheit und Funktionsfähigkeit erwiesen ist, wird es nach mehr oder weniger kurzen Testphasen, ohne klinische Studien abzuwarten, auf den Markt gebracht. Die Ursache dafür ist der Druck, die Entwicklungs- und Produktionskosten schnell wieder hereinholen zu müssen, ferner die Befürchtung, dass die Konkurrenz mit einer ähnlichen Technologie besser und auch sehr bald auf dem Markt sein könnte.

Ein Problem sind auch die Anwender bzw. die Anbieter neuer Technologien, also die Ärzte. Als Beispiel kann die Einschätzung der PET durch Nuklearmediziner dienen, die das Verfahren mit Hilfe anderer Disziplinen in kleinen Patientenserien angewandt haben und nach Konsensus-Konferenzen Empfehlungen abgeben, die nur schwer haltbar sind [3]. Sicher gibt es gute Indikationen für PET, aber auch nach neueren Studien z. B. bei Patienten mit metastasierenden kolorektalen Karzinomen [9] oder bei Patienten mit Plattenepithelkarzinomen des Ösophagus [2] muss der Stellenwert dieser Untersuchung bei Tumorerkrankungen sehr kritisch betrachtet werden [1].

McKinley hat den möglichen Lebenszyklus neuer Technologien in sechs Schritten beschrieben. Zunächst werden viel versprechende Berichte auf der Basis kleiner Fallzahlen publiziert. Anschließend kommt es zu einer ersten professionellen Prüfung und dann zur öffentlichen Akzeptanz. Erst in einem weiteren Schritt wird mit den bisherigen Standardverfahren verglichen, worauf häufig eine professionelle Denunziation der neuen Technologie folgt und die neue Methode schließlich verworfen wird (6).

Technologischer Fortschritt hat in den vergangenen Jahrzehnten trotz allem eindrücklich stattgefunden, z. B. in der minimal-invasiven Chirurgie oder in der interventionellen Therapie von Gefäßerkrankungen. Dennoch ist Technologie-Innovation nur ein Teil des Fortschritts. Verbesserungen von Strukturen, z. B. die Optimierung der Interaktion von ambulanter und stationärer Versorgung oder die Einrichtung von tatsächlich funktionierenden Tumorzentren, wo jeder Patient vor therapeutischen Entscheidungen in einer interdisziplinären Konferenz vorgestellt wird, sind ungleich wichtigere Schritte. Am wesentlichsten ist jedoch die Verbesserung der Qualität jedes einzelnen Arztes, auf die im eingangs genannten Bericht der Sachverständigenkommission abgehoben wird.

Kontinuierliche Fortbildung während der gesamten Zeit der Berufsausübung und die Dokumentation dieser Fortbildung durch Punktevergabe ist wichtig. Diese Maßnahme kann jedoch erst dann greifen, wenn sie zur Pflicht wird. Viele Industrieländer machen uns schon seit Jahren vor, wie eine Rezertifizierung funktioniert und wie sie zur Qualitätsverbesserung führt. In Deutschland wird es noch lange dauern, bis das Wissen eines Arztes in Abständen wiederholt werden muss, solange er berufstätig ist, obwohl die Defizite erkannt sind. Wie anders als mit mangelnder Fortbildung der beteiligten Ärzte ist z. B. die inadäquate Qualität von Diagnostik und Therapie der Schilddrüsenkarzinome in Deutschland zu erklären [4] oder die mangelhafte Behandlung kolorektaler Karzinome in manchen Kliniken [5]? Für Piloten wäre es undenkbar, dass die Qualität ihrer Leistung, wenn sie die Pilotenprüfung einmal bestanden haben, für den Rest ihrer Berufstätigkeit nicht mehr zwingend überprüft wird. Ist nicht Fortschritt in den Köpfen der Ärzte wichtiger als technologischer Fortschritt, auch in der Chirurgie?

Literatur

  • 1 Brennan M F. PET Scanning in Malignancy: Infant, Adolescent or Mature Citizen?.  Ann Surg. 2001;  233 320-321
  • 2 Brücher B LD, Weber W, Bauer M, Fink U, Avril N, Stein H J, Werner M, Zimmermann F, Siewert J R, Schwaiger M. Neoadjuvant Therapy of Esophageal Squamous Cell Carcinoma: Response Evaluation by Positron Emission Tomography.  Ann Surg. 2001;  233 300-309
  • 3 Czech N, Brenner W, Kaqmpen W U, Henze E. Die diagnostische Wertigkeit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) in der klinischen Onkologie.  Dtsch Med Wschr. 2000;  125 565-567
  • 4 Hölzer S, Reiners C, Mann K, Bamberg M, Rothmund M, Dudeck J, Stewart A K, Hundahl S A. Patterns of Care for Patients with Primary Differentiated Carcinoma of the Thyroid Gland Treated in Germany during 1996.  Cancer. 2000;  89 192-201
  • 5 Konhäuser C, Altendorf-Hofmann A  , Stolte M. Die Operationsmethodik bestimmt die Recidivhäufigkeit colorectaler Carcinome.  Chirurg. 1999;  70 1042-9
  • 6 McKinley J B. From promising reports to standard procedure: Stages in the career of a medical innovation.  Milbank Man Fund. 1981;  59 374
  • 7 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: .Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Gutachten 2000/2001. Baden-Baden: Nomos-Verlag, 2001: im Druck vgl. auch http://www.svr-gesundheit.de
  • 8 Scriba P C. Gute ärztliche Fortbildung - in Deutschland zu selten!.  Dtsch Med Wschr. ;  126 385
  • 9 Strasberg S M, Dehdashti F, Siegel B A, Drebin J A, Linehan D. Survival of Patients Evaluated by FDG-PET before Hepatic Resection for Metastatic Colorectal Carcinoma: A Prospective Database Study.  Ann Surg. 2001;  233 293-299

Prof. Dr. M. Rothmund

Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Philipps-Universität Marburg

Zentrum für Operative Medizin

Baldingerstr.

35043 Marburg