Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(19): 574
DOI: 10.1055/s-2001-13804
Fragen aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Virusübertragung bei Stichverletzungen

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Publication Date:
31 December 2001 (online)

 

Frage: Ein Patient, beruflich Zahnarzt, Alter: 41 Jahre, war anamnestisch vor 15 Jahren serologisch Hepatitis B+C-positiv (damalige Unterlagen liegen nicht vor). Eine Nadelstichverletzung damals sei wohl vorausgegangen. Heute hat der Patient: GOT 14 U/l, GPT 30 U/l, γ-GT 43 U/l, jedoch übriges Routinelabor inkl. Bilirubin normal. Heutige Serologie: HIV1+2 neg, TPHA-neg, HBs-Ag neg, auch Anti-HBs, Anti-HBc, Anti-HAV, Anti-HCV, HEV-IgG-Ak, HEV-IgM-Ak alle negativ. Vor etwa einem Jahr sei wohl erneut eine Nadelstichverletzung erfolgt bei der Zahnbehandlung eines ansonsten angeblich gesunden Patienten. Nebenbefund: unklares Fingerspitzen-Ekzem mehrer Finger seit letzter Nadelstichverletzung (am Finger), das z.Z. dermatol. abgeklärt wird. Welches diagnostische Procedere sollte weiter erfolgen a) wegen der erhöhten GPT und γ-GT (30 bzw. 43 U/l), b) wegen evtl. Virus-Übertragung bei den Stichverletzungen?

Antwort: Das Risiko, sich mit Hepatitis B-/C-Viren oder HIV durch eine Nadelstichverletzung zu infizieren, ist nur annäherungsweise abzuschätzen. Stammt die Nadel von einem Patienten, der mit HBV, HCV oder HIV infiziert ist und nicht unter einer antiviralen Behandlung steht, so liegt das Risiko für eine Infektion mit HBV bei 10¿15%, für HCV bei ca. 2% und für HIV bei etwa 0,3% [2], [3], [4].

Will man das Risiko einer Infektion durch einen Patienten mit unbekanntem HIV-, HBV- oder HCV-Status abschätzen, so muss man die Prävalenz dieser Erkrankungen in die Berechnungen mit einbeziehen. Zuverlässige Daten sind für die BRD jedoch nicht vorhanden. Häufig werden Prävalenzen im Bereich von 1% für HBV, 0,5% für HCV und 0,1% für HIV angegeben. Für das Infektionsrisiko muss davon ausgegangen werden, dass bei 100% der HIV-Patienten und bei bis zu 70% der HCV-Infizierten eine aktive Virusreplikation vorliegt, aber nur ca. 15% der HBV-Infizierten einen chronischen HBs-Ag-Trägerstatus haben. Somit liegt die Infektionswahrscheinlichkeit durch Nadelstichverletzung für HBV bei 0,1%, für HCV bei 0,007% und für HIV bei 0,0003%. Diese Abschätzungen sind jedoch sehr ungenau, da sie nicht die unterschiedlichen regionalen (städtisch > ländlich) und patiententypischen (z.B. Dialysepatienten) Prävalenzen berücksichtigen. Immerhin kann festgehalten werden, dass eine Infektion mit Hepatitis B viel wahrscheinlicher als mit Hepatitits C oder gar HIV ist.

Nach einer Nadelstichverletzung sollte die Wunde natürlich zunächst intensiv desinfiziert und danach der Status des Überträgers untersucht werden. Eine mögliche Infektion mit HBV, HCV und/oder HIV des Verletzten sollte unmittelbar nach der Exposition und dann 2 und 6 Monate danach durch die Bestimmung von GPT, HBe- und HBs-Ag, Anti-HCV und Anti-HIV diagnostiziert werden. Zwar kann man durch Bestimmung von HCV-RNA das diagnostische Fenster um 2 Wochen verkürzen. Da sich daraus aber keine unmittelbaren Konsequenzen ergeben, sind die erheblichen höheren Kosten dieser Analyse im Vergleich zu Anti-HCV nicht zu vertreten.

Falls der HBV-Status des Überträgers gesichert ist, sollte möglichst rasch eine Simultanimpfung gegen HBV erfolgen, fals der Anti-HBs-Titer bei dem Verletzten < 10 IU beträgt. Hyperimmunpräparate gegen HCV oder HIV gibt es nicht. Eine Infektion des Verletzten kann im Falle eines positiven HIV-Status des Überträgers durch rechtzeitige Postexpositionsprophylaxe mit Hemmstoffen der reversen Transcriptase und der Protease des HIV weitgehend verhindert werden (Infektionsspezialist wegen der ständig sich ändernden Empfehlungen konsultieren!). Eine Behandlung mit Interferon führt bei einer kurz zurückliegenden (akuten) HCV-Infektion des Verletzten in der Regel zur Eliminierung des Virus.

Bei dem beschriebenen Patienten handelt es sich um einen 41 Jahre alten Zahnarzt, der sich vor ca. 15 und erneut vor einem Jahr bei seiner beruflichen Tätigkeit eine Nadelstichverletzung zugezogen hat und bei dem nun eine leichte Erhöhung der GPT (AST) und γ-GT von 30 bzw. 45 U/l gefunden wurde. Diese Konstellation spricht für eine milde chronisch-aktive Hepatitis, die folgende Ursachen haben kann: Alkohol (< 50%), Hepatitis C (> 20%), Hepatitis B (> 10%), Medikamente oder Autoimmunhepatitis (jeweils < 5%), Hämochromatose oder primär biliäre Zirrhose (jeweils < 3%) und α1-Antitrypsinmangel, Morbus Wilson oder primär skleroserande Cholangitis (jeweils < 1%) [1].

Die nunmehr ein Jahr nach der letzten Verletzung erhobene Serologie schließt eine stattgehabte oder aktive Infektion mit HIV-1 und -2 und den Hepatitisviren A, B, C und E mit größter Wahrscheinlichkeit aus. Da auch moderne Assays zur Bestimmung von Anti-HCV keine 100%ige Sensitivität besitzen, ist wegen der beruflichen Exposition in diesem Fall die Bestimmung der HCV-RNA sinnvoll.

Bevor nun eine aufwendige Diagnostik der selteneren Ursachen für eine chronische Hepatitis mit der Bestimmung von Autoantikörpern (ANA, AMA, SMA, LKM-1, ANCA) eingeleitet wird, sollte doch zunächst eine Kontrolle der GPT und γ-GT bei Vermeidung von Alkohol und/oder lebertoxischen Medikamenten erfolgen. Hinweise auf eine Fettleberhepatitis kann eine Sonographie ergeben. Der beschriebene Patient zeigt offensichtlich keine neurologische, endokrinologische oder pulmonale Symptomatik, sodass der Morbus Wilson, die Hämochromatose oder der α1-Antitrypsinmangel im mittleren Alter eher unwahrscheinlich sind. Bei unklarer Persistenz der GPT-Erhöhung sollte schließlich eine Leberbiopsie erfolgen.

Begleitend zur Diagnostik sollte (endlich) die Impfung gegen Hepatitis B erfolgen, die sehr gut verträglich ist und zuverlässig gegen die häufigste Nadelstichinfektion schützt. Zahnärzte gehörten schließlich wegen ihres bekannt hohen Infektionsrisikos für Hepatitis B zu den ersten, bei denen diese Impfung empfohlen wurde!

Literatur

  • 1 Busch N, Matern S. Chronische Hepatitis. In: Thiemes Innere Medizin. Thieme, Stuttgart, New York 1999: 699-710
  • 2 Cardo D M, Culver D H, Chiesielski C A, Srivastava P U, Marcus R, Abiteboul D, Heptonstall J, Ippolito G, Lot F  , McKibben P S, Bell D M. Centers for Disease Control and Prevention Needlestick Surveillance Group. . A case-control study of HIV seroconverion in health care workers after percutaneous exposure.  N Engl J Med. 1997;  337 1485-1490
  • 3 DeCastro M G, Denys G A, Fauerbach L L, Ferranti J K, Hawkins K, Masters L C, Rimland D, Sharbaugh R J, Zeller J. APIC position paper: hepatitis C exposure in the health care setting. Association for Professionals in Infection Control and Epidemiology.   Am J Infect Conrol. 1999;  27 54-55
  • 4 Gerberding J L. Incidence and prevalence of human immunodeficiency virus, hepatitis B virus, hepatitis C virus, and cytomegalovirus among health care personnel at risk for blood exposure: Final report from a longitudinal study.  J Infect Dis. 1994;  170 1410-1417

Prof. Dr. Dr. Hanns-Ulrich Marschall

Karolinska Institutet - Department of Medicine Division of Gastroenterology and Hepatology, Huddinge University Hospital, K63

S-141 86 Stockholm

Email: hanns-ulrich.marschall@mbb.ki.se