Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2001; 36(5): 262-267
DOI: 10.1055/s-2001-14470
DER BESONDERE BEITRAG
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Heutige Anästhesieverfahren -
Versuch einer Systematik[1]

To Day's Anaesthesia Techniques - an Attempt at ClassificationH. A. Adams1 , E. Kochs2 , C. Krier3
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Institut für Anästhesiologie, Technische Universität München
  • 3Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Katharinenhospital, Klinikum der Stadt Stuttgart
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2001 (online)

Grundlagen

Problemstellung

Jeder Versuch einer systematischen Gliederung der heutigen Anästhesieverfahren trifft auf zahlreiche Probleme:

  • Soll die Gliederung eher historischen, klinischen oder pharmakologischen Ansprüchen genügen?

  • Wie relevant sind historische Vorgaben für heutige Festlegungen und Definitionen?

  • Welchen Stellenwert hat der Applikationsweg der Anästhetika?

  • Ist die Lokalanästhesie der Gegenpol der Allgemeinanästhesie, oder ist die Regionalanästhesie der übergeordnete Begriff?

Die nachfolgende Systematik muss daher subjektiv bleiben und soll als Versuch verstanden werden, die Materie zumindest ansatzweise zu ordnen.

Definitionen und Abgrenzungen

Die Anästhesiologie ist die Wissenschaft von der Anästhesie, der namengebenden Tätigkeit des Anästhesisten, auch wenn der frühere „Narkosearzt’’ längst weitere, zumindest ebenso anspruchsvolle Tätigkeiten übernommen hat. Anästhesie ist das griechisch-neulateinische Wort für „Unempfindlichkeit” [9], das medizinisch eine doppelte Bedeutung hat. Anästhesie bezeichnet sowohl den „Zustand der Unempfindlichkeit des Nervensystems im weitesten Sinn” [13] als auch die „medizinischen Verfahren zur Erzielung der Empfindungslosigkeit des Nervensystems, vor allem bei schmerzhaften Eingriffen” (nach [13]).

Definition: „Anästhesie” ist sowohl der Zustand einer iatrogen induzierten reversiblen Unempfindlichkeit mit dem Ziel, eine Intervention zu ermöglichen, als auch ein medizinisches Verfahren, um diesen Zustand herbeizuführen [1]. Der Zustand Anästhesie kann sich auf den gesamten Organismus (Allgemeinanästhesie) oder einzelne Bezirke (Lokalanästhesie) beziehen.

Auch historisch ist ein englisches Synonym für „Anästhesie” der älteste Begriff. Die erste öffentliche Demonstration einer Äther-Narkose durch W.T.G. Morton am 16. Oktober 1846 wurde am 18. November 1846 von H.J. Bigelow unter dem Titel „Insensibility during surgical operations produced by inhalation” [4] im „The Boston Medical and Surgical Journal” dargestellt, was die historische Priorität des Begriffs „Anästhesie” oder „Unempfindlichkeit” unterstreicht.

Die Begriffe „Narkose” und „Allgemeinanästhesie” werden in der Folge synonym verwendet, was jedoch im strengen Sinn nicht zutrifft, denn „Narkose” ist durchaus mehr als Anästhesie.

Definition: „Narkose” (griechisch: Erstarrung) ist die allgemeine Betäubung des Organismus mit zentraler Schmerz- und Bewußtseinsausschaltung [9].

Der Begriff „Narkose” erweitert die „Anästhesie” um die Bewußtseinsausschaltung oder Hypnose und verbietet gleichzeitig die gelegentlich benutzte Bezeichnung „Teilnarkose”, z. B. für eine Spinalanästhesie.

Während der Terminus „Narkose” den Begriff der „Anästhesie” erweitert, wird er durch den Begriff Analgesie unter Ausgrenzung des Lage-, Tast- und Temperaturempfindens usw. auf die Komponente „Schmerz” reduziert.

Definition: „Analgesie” ist die Aufhebung der Schmerzempfindung, die Schmerzlosigkeit [9].

Da der adäquat „narkotisierte Patient” per definitionem keine Schmerzen wahrnehmen kann, ist der Begriff „Analgesie” im Rahmen der Narkose problematisch. Es ist noch weitgehend unbekannt, welche psychischen und physischen Folgen eine fehlende spezifische Hemmung des nozizeptiven Systems beim narkotisierten Patienten hat. Daher bezweckt die heutige Allgemeinanästhesie über die „Analgesie” hinaus die „Antinozizeption” als spezifische Blockade des nozizeptiven Systems [7]. Unter dieser Voraussetzung wird hier an dem etablierten Begriff „Analgesie” festgehalten.

Traditionell wird die Narkose in drei Komponenten gegliedert:

  • Die Analgesie als reine Schmerzausschaltung,

  • die Hypnose als Bewußtseinsverlust,

  • die vegetative Dämpfung.

Die Muskelentspannung tritt als zusätzliche Qualität aus operativer Indikation hinzu.

Eine strenge Trennung dieser Komponenten ist nicht möglich. So kann eine tiefe Bewußtlosigkeit sehr wohl zur Analgesie und Muskelentspannung beitragen (vor der breiten Verwendung von Muskelrelaxantien wurde die Muskelentspannung regelmäßig durch entsprechende „Tiefe” der Äther-Narkose herbeigeführt). Die vegetative Dämpfung ist das zusätzliche Resultat der übrigen Komponenten und wird derzeit nicht regelmäßig durch spezifische „Vegetativa” induziert, zu denen z. B. das Clonidin näherungsweise gezählt werden kann.

Im obengenannten Sinn ist die Lokalanästhesie oder örtliche Betäubung [9], genauer die örtliche Unempfindlichkeit, mit ihrer nacheinander eintretenden sympathischen, sensorischen und ggf. motorischen Blockade mehr als Analgesie und damit eine Anästhesie.

Definition: Als Lokalanästhesie wird die örtliche Schmerzausschaltung im Bereich der Nervenendigungen oder Leitungsbahnen ohne Beeinträchtigung des Bewusstseins bezeichnet.

Es bleibt noch zu definieren, welche Medikamente dem Anästhesisten für seine Tätigkeit zur Verfügung stehen.

Definition: Anästhetika im weiteren Sinne sind alle Medikamente zur spezifischen Herbeiführung einer Allgemein- oder Lokalanästhesie.

Die Substanzen mit ihren Hauptgruppen Allgemeinanästhetika und Lokalanästhetika werden nach dem Applikationsweg wie folgt unterteilt:

  • Lokalanästhetika werden in unmittelbarer Nähe ihres Wirkortes appliziert.

  • Allgemeinanästhetika werden nach dem klinisch bevorzugten Applikationsweg in Inhalations- und intravenöse Anästhetika getrennt.

  • Zu den Inhalationsanästhetika gehören die volatilen Anästhetika (lateinisch volatil = flüchtig, verdunstend) sowie die beiden Gase Stickoxydul (Lachgas, N2O) und Xenon.

  • Zu den intravenösen (eigentlich injizierbaren, da oft auch intramuskulär usw. anwendbaren) Anästhetika zählen die Hypnotika, Sedativa und Analgetika sowie das Ketamin. Die Muskelrelaxantien können nur im weitesten Sinn als Anästhetika oder besser „Additiva” gelten, da sie weder analgetisch noch sedierend wirken.

„Anästhetika” sind nicht mit den „narcotics” des englischen Sprachraums gleichzusetzen, mit denen dort die Opioide bezeichnet werden.

Die Prämedikation bleibt hier außer Betracht. Derzeit werden vornehmlich Sedativa (Benzodiazepine) und im Einzelfall auch Analgetika benutzt, die jedoch zur folgenden Anästhesie nicht entscheidend beitragen.

1 Aus: Kochs E, Krier C, Bruzello W, Adams H A (Hrsg.) Anästhesiologie. Bd. 1, 1. Aufl., Stuttgart: Thieme, 2001

Literatur

  • 1 Adams H A, Groh J, Harbach H -W, Hempelmann G, Hoeft A, Sefrin P, Wietasch G. Inhalationsanästhesie. AINS-Fortbildungsreihe Anästhesie I zur Fortbildung von Ärzten, Ärzten in Ausbildung, Studenten und medizinischem Personal. Hrsg. v. Glaxo Wellcome und IDM - Institut für Didaktik in der Medizin IDM, Michelstadt 1998
  • 2 Bier A. Ueber einen neuen Weg Localanästhesie an den Gliedmaassen zu erzeugen.  Arch klin Chir. 1908;  86 1007-1016
  • 3 Bier A. Versuche über Cocainisirung des Rückenmarkes.  Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1899;  51 61-369
  • 4 Bigelow H J. Insensibility during surgical operations produced by inhalation. The Boston Medical and Surgical Journal Vol. XXXV, No. 16 vom 18. November 1846
  • 5 Brandt L (Hrsg.). Illustrierte Geschichte der Anästhesie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart; 1997
  • 6 De Castro J, Mundeleer P. Anesthésie sans barbituriques: la neuroleptanalgésie (R. 1406, R. 1625, Hydergine, Procaine).  Anesthésie Analgésie Réanimation. 1959;  16 1022-1056
  • 7 Detsch O, Kochs E. Bedeutet Anästhesie immer auch Analgesie?.  Schw Med Rundschau. 1997;  86 1549-1553
  • 8 Domino E F, Chodoff P, Corssen G. Pharmacologic effects of CI-581, a new dissociative anesthetic, in man.  Clin Pharmacol Ther.. 1965;  6 279-291
  • 9 Duden - Das Fremdwörterbuch. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG Mannheim; 1997
  • 10 Kay B. Total intravenous anaesthesia with etomidate. I. A trial in children.  Acta Anaesth Belg.. 1977;  28 107-113
  • 11 Koller C. Vorläufige Mittheilung über locale Anästhesirung am Auge (Vorgetragen von Dr. Brettauer). In: Bericht über die Sechzehnte Versammlung der Ophthalmologischen Gesellschaft. Heidelberg 1884. Redigiert durch F.C. Donders, W. Hess und W. Zehender. Beilageheft zu den Klinischen Monatsblättern für Augenheilkunde (Enke, Stuttgart) 1884 22: 60-63
  • 12 Lundy J S. Balanced anesthesia.  Minn Med.. 1926;  9 399-404
  • 13 Meyers Lexikon in drei Bänden. Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG Mannheim; 1997
  • 14 Schleich C -L. Die Infiltrationsanästhesie (lokale Anästhesie) und ihr Verhältnis zur allgemeinen Narkose (Inhalationsanästhesie).  Verhdlg dtsch Ges Chir. 1892;  1 121-127
  • 15 Schwilden H, Stoeckel H, Schüttler J, Lauven P. Vergleich verschiedener empirischer Dosierungsvorschläge für Etomidat-Infusionen anhand pharmakokinetischer Berechnungen.  Anästh Intensivther Notfallmed. 1981;  16 175-179

1 Aus: Kochs E, Krier C, Bruzello W, Adams H A (Hrsg.) Anästhesiologie. Bd. 1, 1. Aufl., Stuttgart: Thieme, 2001

Prof. Dr. med. H. A. Adams

Zentrum Anästhesiologie
Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover