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DOI: 10.1055/s-2001-14809-2
Editorial
EditorialPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
28. April 2004 (online)
Die Verabreichung des Narkosegases Äther im Jahre 1846 in Boston wird allgemein als die Geburtsstunde der modernen Anästhesie angesehen. Heute stehen neben Lachgas als Trägergas für volatile Anästhetika die lang eingeführten aber zwischenzeitlich kaum mehr verwendeten Inhalationsanästhesthetika Halothan und Enfluran, als Standardinhalationsanästhetikum das Isofluran, sowie die neuen Substanzen Sevofluran und Desfluran zur Verfügung. Im Frühsommer des Jahres 2000 fand das alljährliche Tübinger Anästhesie-Symposium statt. Am Beginn des neuen Milleniums wurde ein Blick in die Zukunft der Inhalationsanästhesie versucht. Erstaunlicherweise wissen wir trotz der langen klinischen Anwendung der volatilen Anästhetika bis heute wenig über deren exakten molekularen Wirkmechanismus. Derzeit akzeptiert ist die Arbeitshypothese, dass die Narkosegase Halothan, Enfluran, Isofluran und Sevofluran die Spontanaktivität und die Erregbarkeit kortikaler Nervenzellen hemmen, indem sie die durch GABAA Rezeptoren vermittelte synaptische Inhibition im Kortex erhöhen. Viele Befunde deuten darauf hin, dass demgegenüber Lachgas und Xenon durch eine Blockade der NMDA Rezeptoren ihre anästhetischen Eigenschaften entfalten.
Das ZNS mit seiner hohen Dichte an GABAA und NMDA Rezeptoren ist also unbestritten Ziel- und Wirkorgan der volatilen Anästhetika. Zwangsläufig ergibt sich die Frage, ob die Funktion des ZNS während Anästhesie routinemäßig überwacht werden muss, denn sowohl eine zu flache als auch eine unangemessen tiefe Narkose bergen Risiken für den Patienten. Eine zu flache Narkose kann zu unangenehmen intraoperativen Wahrnehmungen („awareness”) führen, bei zu tiefer Narkose ergeben sich Gefahren vor allem durch hämodynamische Instabilität, ferner kommt es zu einer prolongierten Aufwachphase mit längerer Betreuungszeit im Aufwachraum. Zur Einschätzung der adäquaten Narkosetiefe benutzt der Anästhesist heute im wesentlichen hämodynamische und vegetative Parameter. An elektrophysiologischen Methoden werden derzeit akustisch evozierte Potentiale, das Roh-EEG und davon abgeleitet Powerspektralanalysen evaluiert. Gegenwärtig lässt sich mit einem gezielten Neuromonitoring vor allem eine nicht ausreichende Narkosetiefe feststellen. Allerdings ist derzeit eine prospektive Steuerung der Anästhesietiefe zur Vermeidung von „vegetativen” Aufwach-Reaktionen während operativem Stress kaum möglich. Hier ist nach wie vor die Erfahrung des Anästhesisten und seine Kenntnis der operativen Abläufe wichtig.
Die neueren volatilen Anästhetika Sevofluran und Desfluran zeigen andere physikalisch-chemische Eigenschaften und ein anderes pharmakokinetisches Profil als die bisher gewohnten Substanzen. Dies führt zu neuen Konzepten, aber auch zu neuen Risiken bei ihrer Anwendung. Das rasche An- und Abfluten beider Substanzen macht bei Sevofluran eine Maskeneinleitung auch beim Erwachsenen möglich, Desfluran ist aufgrund seines stechenden Geruchs dazu nicht geeignet. Beide Substanzen ermöglichen eine rasche Narkoseausleitung und Wiedererlangung der Vigilanz, vor allem bei Kindern lässt sich allerdings eine erhöhte Inzidenz von Unruhe und Agitiertheit feststellen. Teilweise mag dies auf eine unzureichende Analgesie zurückzuführen sein, die sich im Falle einer rascheren Erholung von den Wirkungen einer Allgemeinanästhesie schneller bemerkbar macht und entsprechend frühzeitig angegangen werden muss.
Für Verunsicherung sorgten Berichte über eine höhere Nephrotoxizität der neuen Substanzen und über mögliche Probleme mit Degradationsprodukten der Substanzen am Atemkalk. Intensive Untersuchungen am Menschen haben jedoch gezeigt, dass sowohl bei Nierengesunden als auch bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion beide Substanzen bedenkenlos eingesetzt werden können. Lediglich bei extrem langen prolongierten Sevoflurannarkosen (> 14 MAC-Stunden) kann es gelegentlich zu einer tendentiellen und temporären Einschränkung der maximalen Konzentrationsfähigkeit der Nieren kommen. Bei den Abbauprodukten des Sevoflurans am Atemkalk spielte im Tierversuch das Compound B eine gewisse Rolle. Jedoch steht in der Zwischenzeit fest, dass es beim Menschen eine sehr viel größere Sicherheitsbreite und keine Hinweise auf eine organspezifische Toxizität gibt. Die Bildung von Kohlenmonoxid an trockenem Atemkalk tritt bei Halothan und Sevofluran selbst unter ungünstigen Bedingungen nur in toxikologisch vernachlässigbaren Konzentrationen auf, bei Verwendung von Absorbern mit einem normalen Feuchtigkeitsgehalt (14 - 18 % H2O) besteht keine Gefahr, auch bei Desfluran.
Die neuen Inhalationsanästhetika sind, was den Einkaufspreis angeht, derzeit teurer als die bisher verwandten Substanzen. Jedoch können sie trotzdem bei niedrigem Frischgasfluss und unter Berücksichtigung auch anderer Kostenfaktoren (Medicalprodukte bei i. v.-Anästhetika, kürzere Verweildauer im Aufwachraum im Vergleich zu älteren Substanzen u. a.) wirtschaftlich vorteilhaft sein. Insgesamt wird in Zukunft den gesamten wirtschaftlichen Auswirkungen auch der Anästhesiekosten innerhalb eines Krankenhauses immer größere Bedeutung zukommen. Dies ist wesentlich bedingt durch die politische Vorgabe der Abrechnung auf der Basis der sog. Diagnosis Related Groups (DRGs) ab dem Jahr 2003.
Eine sowohl unter wirtschaftlichen wie auch unter medizinischen Gesichtspunkten geführte Diskussion hat sich in der Vergangenheit immer wieder am Gebrauch von Lachgas entzündet. Lachgas galt lange Zeit als praktisch inert und nebenwirkungsfrei, was so heute nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Neben vielfältigen patientenbezogenen Risiken und Nebenwirkungen z. B. Myelose bei Vitamin B12-Mangel, intrakranielle Drucksteigerung, Übelkeit und Erbrechen, sind negative Auswirkungen auf die Umwelt (Treibhauseffekt) und die erhöhte Exposition des Anästhesiepersonals zu bedenken. Eine Task Force der European Academy of Anaesthesiology prüft derzeit, ob und wann der Gebrauch von Lachgas noch indiziert ist bzw. ob sein Gebrauch weiter eingeschränkt werden soll bis hin zum völligen Verzicht.
Xenon stellt aufgrund seiner Edelgasstruktur und seiner Eigenschaften ein umweltfreundliches und verträgliches Inhalationsanästhetikum dar, da es in Bezug auf Aufwachverhalten, analgetische Potenz, kardiovaskuläre Stabilität und andere Faktoren Vorteile gegenüber anderen Inhalationsanästhetika verspricht. Jedoch wird es noch einige Zeit dauern, bis ein umfassendes Nutzen-Risiko-Profil unter Berücksichtigung der relativ hohen Kosten von Xenon erarbeitet wird, um die spezifischen Indikationen diese Gases definieren zu können.
Zusammenfassend kann heute festgestellt werden, dass die Geschichte der modernen Anästhesie mit der Inhalation eines gasförmigen Anästhetikums begann und wir durch intensive Forschungsarbeiten heute dem idealen Inhalationsanästhetikum schon sehr nahe gekommen sind. Man muss daher kein Hellseher sein, wenn man den Inhalationsanästhetika auch in Zukunft einen festen Platz in der modernen Anästhesie prophezeit.
Dr. med. H.-J. Dieterich
Klinik für Anästhesiologie und Transfusionsmedizin
Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Universitätsklinikum Tübingen
Hoppe-Seyler-Straße 3
72076 Tübingen