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DOI: 10.1055/s-2001-15272
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Wie viele Diäten brauchen wir?
How many Diets do our Patients Need?Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)
Das Rationalisierungsschema 2000 des Berufsverbandes Deutscher Ernährungsmediziner, der Deutschen Adipositasgesellschaft, der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin und des Verbandes der Diätassistenten/Deutscher Berufsverband ist im Dezemberheft der Aktuellen Ernährungsmedizin 2000 erschienen [1]. Es handelt sich um die inzwischen vierte Auflage des Rationalisierungsschemas. Dieses ist 1978 zum ersten Mal erschienen [2]. Die im Vergleich zur letzten Auflage im Jahre 1994 [3] notwendige Neuauflage wird durch eine Reihe von Veränderungen begründet. So erfordern die neuen DACH-Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr [4] eine Überarbeitung der Vollkostempfehlung. Weitere Aktualisierungen erschienen für die Ernährung des Diabetikers und aber auch im Hinblick auf einzelne Kostformen (wie eiweiß- und natriumbegrenzte Diäten) notwendig. Nach Ansicht der Autoren lässt der gegenwärtige Wissensstand zu dem Einfluss der Ernährung bei Patienten mit Rheuma, multipler Sklerose und auch Epilepsie differenzierte diätetische Empfehlungen zu, welche ebenfalls im Rationalisierungsschema 2000 berücksichtigt worden sind.
Das Rationalisierungsschema 2000 unterteilt die verschiedenen Kostformen und Diäten in vier Hauptgruppen (Vollkost, engergiedefinierte Diäten, protein- und elektrolytdefinierte Kostformen und Sonderdiäten). Diese Gruppen werden jeweils noch weiter differenziert. Die künstliche Ernährung ist nicht eigentlich Teil des Rationalisierungsschemas, dennoch werden chemischdefinierte und nährstoffdefinierte Formeldiäten unter den Sonderdiäten aufgeführt. Unter Einschluss der Vollkost finden sich im Rationalisierungsschema 45 verschiedene Kostformen bzw. Diäten.
Angesichts der hohen Zahl der im Rationalisierungsschema beschriebenen Kostformen/Diäten erscheint es notwendig, über eine Vereinfachung und Begrenzung auf die tatsächlich wichtigen und praktisch auch angewendeten Diäten zu diskutieren.
Eine Reihe der im Rationalisierungsschema 2000 enthaltenen Diäten (z. B. serotoninarme Diät oder die oxalsäurereduzierte Diät) haben in der Anwendung einer Diätküche praktisch keine Bedeutung. Andere Kostformen wie z. B. hämoglobinfreie Diäten oder kollagenfreie bzw. hydroxyprolinarme Diäten könnten ebenfalls entfallen. Es sollte berücksichtigt werden, dass einige Kostformen (z. B. vegane Ernährung bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen oder auch die sog. Diabetesdiät) keine Diät im Sinne einer Ernährung, welche gezielt die besonderen Ernährungserfordernisse Kranker berücksichtigt, sind, sondern im Prinzip einer Vollkost, d. h. einer gesunden Ernährung entsprechen oder auch einer alternativen Kostform zugeordnet werden. Für eine kritische Wertung der im Rationalisierungsschema 2000 aufgeführten Kostformen/Diäten, sollten die folgenden Fragen beantwortet werden:
Genügen die Kostformen/Diäten evidenzbasierten Kriterien? Entsprechen die Kostformen/Diäten den heute häufigen Krankheitsbildern? Sind die Kostformen/Diäten praktisch umsetzbar? Welche Bedeutung haben die Kostformen/Diäten angesichts der inzwischen großen Zahl funktioneller Lebensmittel?
ad 1.) Eine evidenzbasierte Bewertung von Therapiemaßnahmen [5] ist heute auch in der Ernährungsmedizin notwendig. Das Konzept der evidenzbasierten Medizin ist an anderer Stelle dargestellt worden [5]. Eine evidenzbasierte Bewertung von Kostformen/Diäten ist aber bis heute nur in Einzelfällen erfolgt [6]. Es ist wahrscheinlich, dass eine Reihe von im Rationalisierungsschema 2000 aufgeführten Kostformen/Diäten nicht den evidenzbasierten Kriterien entspricht (z. B. Ernährung bei rheumatischen Erkrankungen, Ernährung bei multipler Sklerose, ketogene Diäten). Im Falle der ketogenen Diäten überrascht es, dass eine aus Sicht der Ernährungswissenschaft völlig unausgewogene Ernährungsform überhaupt Eingang in die klinische Diätetik finden konnte.
ad 2.) Angesichts der im Rationalisierungsschema 2000 angeführten Indikationen für spezielle Kostformen/Diäten sollte der in den letzten 25 Jahren beobachtete Paradigmenwechsel in den Krankheiten berücksichtigt werden. Im Hinblick auf ernährungsabhängige Erkrankungen ist es offensichtlich, dass anstelle der klassischen Krankheitsbilder (wie z. B. die Adipositas, Diabetes mellitus, Dislipoproteinämie, Hyperurikämie) heute in der Regel kombinierte Formen auftreten, welche in Form des Metabolischen Syndroms die Praxis der Ernährungsberatung dominieren. Gemessen an den im Rationalisierungsschema 2000 aufgeführten Diäten wären bei einem Patienten mit einem Metabolischen Syndrom die Kombination von vier oder fünf Diäten notwendig (z. B. energiereduzierte Diät, Diabetesdiät, lipidsenkende Diät, elektrolytdefinierte Diät und gegebenenfalls purinreduzierte Diät). Dieses Vorgehen bedeutet ein in der Praxis umständliches und auch wenig überzeugendes Konzept.
ad 3.) Bei der praktischen Umsetzung der Diäten ergeben sich häufig Schwierigkeiten, welche die Attraktivität der endgültigen Kostform und auch die Akzeptanz auf Seiten des Patienten beeinflussen. Das Konzept einer Diät erscheint im Einzelfall plausibel, andererseits ist der Misserfolg von auch plausiblen Diäten (wie energiereduzierte Diäten) in der Praxis hoch. Ein messbarer Effekt (z. B. eine nachhaltige Veränderung des Körpergewichtes) wird häufig nur in Kombination mit anderen Behandlungsstrategien (z. B. einer medikamentösen Adipositastherapie; vgl. [7]) erreicht. Dieser Hinweis gilt auch für die sog. Diabetesdiät. Im Rationalisierungsschema fehlen Verknüpfungen zu den medikamentösen Behandlungsstrategien (z. B. der intensivierten Insulinbehandlung), welche den Wert diätetischer Massnahmen relativieren. Die „krankheitsspezifischen Diäten” suggerieren, dass die Diät (z. B. die sog. Diabetesdiät) für alle Patienten (d. h. für alle Diabetiker) empfohlen wird. Tatsächlich erwachsen Sinn und Wert einer diätetischen Modifikation aus der Konstellation und Komplikation der Erkrankung (z. B. Hypertonie bei Diabetes mellitus, welche eine Lebensstiländerung auch unter evidenzbasierten Kriterien sinnvoll erscheinen lässt). Das Wissen um den (z. T. begrenzten) Erfolg einer Diät sollte unter Umständen auch in ihr Konzept einfließen.
ad 4.) Das Rationalisierungsschema 2000 berücksichtigt nicht die Bedeutung funktioneller Lebensmittel oder auch einzelner Nährstoffe, welchen aus Sicht der Ernährungsmedizin und auch der Verbraucher eine zunehmende Bedeutung in der Prävention und auch Behandlung chronischer Erkrankungen zukommt. Diese müssten im Zusammenhang mit den im Rationalisierungsschema 2000 aufgeführten Kostformen/Diäten, neu diskutiert werden, da sie in der Praxis einzelne diätetische Maßnahmen ersetzen mögen.
Das Rationalisierungsschema hinterlässt eine Reihe von Fragen. Die Beantwortung dieser Fragen muss einer sowohl unter dem Gesichtspunkt der Wissenschaft als auch der Praxis überarbeiteten Auflage vorbehalten bleiben. Ein alternatives Rationalisierungsschema würde sich evidenzbasierten Kriterien und auch den veränderten Krankheitsspektren anpassen. In der Praxis wird dieses Vorgehen eine Vereinfachung bedeuten. Ein gemäß dem 2. Punkt (s. o.) zum Rationalisierungsschema 2000 alternativer Entwurf enthält die folgenden Kostformen:
Vollkost, leichte Vollkost, Ernährung bei Metabolischem Syndrom (z. B. Mediterrane Ernährung 8 oder „DASH-Diet” 9), Diäten bei Malassimilation, Diäten bei Stoffwechselerkrankungen (außer dem Metabolischen Syndrom, angeborene Stoffwechselerkrankungen/erworbene Stoffwechselerkrankungen), künstliche Ernährungparenterale Ernährung/enterale Ernährung, funktionelle Lebensmittel/Nutriceuticals (Vitamin E/Antioxidantien, Folsäure, n3-Fettsäuren, Glutamin, Arginin, BCAA etc.)
Mein Vorschlag lautet: Die aufgeführten Kostformen/Diäten/Lebensmittel sollten neu „sortiert”, in einer zeitgerechten Form evaluiert und entsprechend evidenzbasierten Kriterien bewertet werden. Eine kritische Bewertung der Kostformen/Diäten sollte
konstruktiv, unter Berücksichtigung möglicher Probleme bei der Planung und Durchführung ernährungswissenschaftlicher Untersuchungen sowie der Achtung auch der ärztlichen Erfahrung erfolgen.
Das Motto könnte lauten: „Making the best of our knowledge”. Angesichts der erfreulich großen Zahl von Autoren des Rationalisierungsschemas 2000 und auch der daran beteiligten Fachgesellschaften gibt es in Deutschland genug kritisches Potenzial um eine evidenzbasierte Bewertung ernährungsmedizinischer Behandlungsstrategien auch zum Nutzen unserer Patienten vorzunehmen. Die nächste Auflage des Rationalisierungsschemas erfordert einen neuen Anfang.
Literatur
- 1 Kluthe R, Fürst P, Hauner H, Hund-Wissner E, Kasper H, Kothoff G, Rottka H, Schade M, Wechsler J G, Weingard A, Wild M, Wolfram G. Das Rationalisierungsschema 2000 des Berufsverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM), der Deutschen Adipositasgesellschaft, der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin (DAEM), der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und des Verbandes der Diätassistenten/Deutscher Berufsverband (VDD). Akt Ernährungsmedizin. 2000; 25 263-270
- 2 Rationalisierungsschema der Arbeitsgemeinschaft für Klinische Ernährung e. V. für Ernährung und Diätetik im Krankenhaus. Aktuelle Ernährungsmedizin 1978 3: 144-148
- 3 Rationalisierungsschema 1994 der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). Aktuelle Ernährungsmedizin 1990 15: 97-102
- 4 DACH - Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr. 1. Auflage. Frankfurt am Main; Umschau/Braus 2000
- 5 Raspe H, Stange E S. Evidence-based medicine: Kontext und Relevanz „evidenzgesicherter Medizin”. Zeitschrift für Gastroenterologie. 1999; 37 525-533
- 6 Plauth M, Weimann A, Holm E, Müller M J. Leitlinien der GASL zur Ernährung bei Leberkrankheiten und Lebertransplantation. Zeitschrift für Gastroenterologie. 1999; 37 301-312
- 7 James W PT, Astrup A, Finer N, Hilsted J, Kopelman P, Rössner S, Saris W AM, van Gaal L F, for the STORM Study Group. Effect of Sibutramine on weight maintenance after weight loss: a randomized trial. Lancet. 2000; 356 2119-2125
- 8 Renaud S, de Lorgeril M, Delaye J, Guidollet J, Jacquard F, Mamelle N, Martin J-L, Monjand I, Salen P, Toubol P. Cretan mediterran diet for prevention of coronary heart disease. American Journal of Clinical Nutrition. 1995; 61 (Suppl) 13 605-13 675
- 9 Sacks F M, Svethey L P, Vollmer W M, Appel L J, Bray G A, Harsha D, Obersauch E, Conlin P R, Miller E R, Simons-Morton D G, Karanja N, Lin P-H, for the DASH collaborative research group. Effects on blood pressure of reduced dietary Sodium and the dietary approach to stop hyperflusion (DASH) diet. New England Journal of Medicine. 2001; 344 3-10
Prof. Dr. med. Manfred J. Müller
Institut für Humanernährung und Lebensmittelkunde
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Düsternbrooker Weg 17 - 19
24105 Kiel
eMail: mmueller@nutrfoodsc.uni-kiel.de