Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(SH1): 8-10
DOI: 10.1055/s-2001-15930
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Nikolaus Friedreich, der erste Heidelberger „Neurologe”

T. Grimm
  • Abteilung für Medizinische Genetik, Würzburg
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Im Jahr 1858 hat Nikolaus Friedreich mit 32 Jahren den Ruf auf die Professur der speziellen Pathologie und Therapie in Heidelberg angenommen. Gleichzeitig wurde er zum Leiter der Medizinischen Klinik ernannt (Abb. [1]). Erb [1] schrieb dazu: „Er war für diese Stellung vorzüglich vorbereitet durch seine klinische Ausbildung, durch seine eingehende Beschäftigung mit der Diagnostik einerseits, mit der pathologischen Anatomie anderseits; wie kaum ein anderer unter seinen damaligen jungen Zeitgenossen war er geeignet, die Methoden der streng wissenschaftlichen Forschung auch in seiner klinischen Lehrtätigkeit zur Geltung zu bringen und zu pflegen; und er war und blieb ein hervorragender Vertreter der pathologisch-anatomischen Richtung in der klinischen Medizin, die unter Virchows und seiner mitstrebenden Zeitgenossen Einfluss zur unbedingten Herrschaft gelangt war.”

Abb. 1 Nikolaus Friedreich (31. 7. 1825 - 06. 7. 1882).

Bis zu seinem Tode am 6. Juli 1882 wirkte er erfolgreich in Heidelberg.

Geboren wurde Nikolaus Friedreich am 31. Juli 1825 in Würzburg. Er stammte aus einer Würzburger Familie (Abb. [2]). Sein Urgroßvater war Dr. Johannes Wilhelmus Friedreich, Hochfürstlich Bamberg und Würzburger Leibchirurgus und Physikus. Er wurde am 18. April 1720 in Teustungen (Eichsfeld) geboren und starb am 26. September 1784 in Würzburg [2].

Abb. 2 Stammbaum der Familie Friedreich.

Sein ältester Sohn, Nicolaus Anton, wurde am 24. Februar 1761 in Würzburg geboren. Er studierte in Erlangen, Göttingen und Würzburg Medizin, wo er 1788 die Promotion erhielt. Im Jahr 1795 habilitierte er sich in Würzburg und wurde noch im selben Jahr zum Professor extraordinarius der allgemeinen Therapie und 1796 zum Professor ordinarius der praktischen Heilkunde ernannt. Von 1798 bis 1805 war er u. a. Generalstabsarzt der fürstlich würzburgischen Truppen und leitete mehrere Kriegsspitale. Im Jahr 1806 wurde Nicolaus Anton Friedreich zum dirigierenden (= zweiten) Arzt und Professor der Medizinischen Klinik im Juliusspital, Würzburg, ernannt. Wegen eines zunehmenden Gichtleidens mit rasch fortschreitender Erblindung erfolgte 1824 seine Emeritierung. Er starb am 5. September 1836 [2].

Sein Sohn, Johann Baptist, geboren 19. April 1796, studierte auch in Würzburg Medizin. Im Jahr 1818 erhielt er die Promotion. Aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten wurde er bereits 1819 Privatdozent in Würzburg. Im Jahr 1821 wird er mit 24 Jahren zum außerordentlichen Professor und zehn Jahre später zum ordentlichen Professor ernannt. Er soll bei den Studenten ein sehr beliebter Lehrer gewesen sein. Vom Staat wurde ihm jedoch Renitenz, Rechthaberei und Aufruhr vorgeworfen, weil er sich bei der Senatswahl im Jahr 1827 für geheime Wahl einsetzte. Da der Staat in Johann Baptist Friedreich ein „zu gefährliches Ferment für die gärenden Massen der akademischen Jugend” sahen, wurde er 1832 seines Amtes in Würzburg enthoben und als Gerichtsarzt nach Weißenburg versetzt. Von 1850 bis 1855 war er als Gerichtsarzt und Professor honorarius zu Erlangen tätig. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er wieder in Würzburg, wo er am 29. Januar 1862 starb [3].

Sein Sohn Nikolaus Friedreich setzte die Familientradition fort und studierte von 1844 an in Würzburg Medizin. Im Jahr 1847 ging er für ein Semester nach Heidelberg. Sein Examen legte er 1849 in Würzburg ab. Unter dem Einfluss von Kölliker publizierte er 1848 zusammen mit seinem Kommilitonen Gegenbaur eine anatomische Arbeit „Über den Schädel des Axolot”. Nach seiner Promotion 1850 arbeitete er als Assistent des erblindeten Klinikers Markus im Juliusspital in Würzburg. Als Virchow 1849 nach Würzburg kam, wurde er neben seiner klinischen Tätigkeit ein eifriger Zuhörer und Arbeiter in Virchows Vorlesungen und Kursen. Im Jahr 1853 habilitierte er sich mit der Schrift „Beiträge zur Lehre von den Geschwülsten innerhalb der Schädelhöhle” für das Fach spezielle Pathologie und Therapie (Abb. [3]) [4]. Als Virchow 1856 einen Ruf nach Berlin annahm, wurde Nikolaus Friedreich zum Professor extraordinarius der pathologischen Anatomie und Physiologie ernannt, womit er praktisch Virchows Nachfolge in Würzburg antrat. Als er dann 1858 den Ruf nach Heidelberg erhielt, sah er dort die Möglichkeit, seine Interessen auf dem Gebiet der theoretischen Medizin mit der Klinik zu verbinden [5].

Abb. 3 Habilitationsschrift von Nikolaus Friedreich [4].

In Heidelberg übernahm er „im dritten Stock des alten Seminars (der jetzigen Kaserne) eine klinische Abteilung von anfangs sieben, später acht Krankenzimmern zu acht Betten - leidlich große und genügende Räume, mit zwei klinischen Assistenten, verhältnismäßig wenig Wartepersonal; dazu ein im Aufblühen begriffenes Ambulatorium mit einem in der Stadt wohnenden Assistenten, der auch die im vierten Stock noch vorhandenen, der medizinischen Klinik zugewiesenen Räume für Haut- und Geschlechtskranke zu besorgen hatte.” [1].

Die Studentenzahl war zu dieser Zeit noch gering. In seinem ersten Heidelberger Semester hatte Friedreich sieben Hörer. In den späteren Jahren waren es maximal um 40 Studenten. Wilhelm Erb, ein Schüler von Nikolaus Friedreich, schrieb dazu: „für den Lehrer wohl weniger anregend, für uns Praktikanten aber sehr nützlich, weil wir dadurch sehr häufig an die Reihe kamen und der unmittelbaren Einwirkung des Lehrers auf unser Lernen und Tun teilhaftig wurden. ... und so wurde Friedreichs Klinik bei den Studierenden allgemein beliebt und nur ungern versäumt.” [1].

Neben dem klinischen Unterricht las er auch Vorlesungen in der allgemeinen Pathologie und Diagnostik als auch in der pathologischen Anatomie. Aber auch in der akademischen Verwaltung war er aktiv. Er war 1867/68 Rektor der Universität und 1872/73 und 1881/82 Dekan der medizinischen Fakultät [6]. Unter seiner Initiative erfolgte der Neubau des Akademischen Krankenhauses im Jahre 1876.

Die wissenschaftlichen Arbeiten umfassen das weite Gebiet der Pathologie, der inneren Medizin und der Neurologie. Zu seinen bedeutendsten Arbeiten gehören die Publikationen auf dem Gebiet der Nervenkrankheiten:

Ueber degenerative Atrophie der spinalen Hinterstränge (Virchow’s Archiv, 1863) 7. Ueber Ataxie mit besonderer Berücksichtigung der hereditären Formen (Virchow’s Archiv 1876) 8. Ueber progressive Muskelatrophie, über wahre und falsche Muskelatrophie (Berlin, 1873) 9.

Im Jahr 1863 „erschien seine erste Abhandlung ‚über die degenerative Atrophie der spinalen Hinterstränge’, mit welchen er jene Krankheit in die Nervenpathologie einführte, die mit seinem Namen für alle Zeiten verbunden sein wird. - Nach weiteren 13 Jahren (1876) folgte dieser ersten eine zweite größere, sie ergänzende und vervollständigende Arbeit nach (über Ataxie mit besonderer Berücksichtigung der hereditären Formen), mit derselben hat er die nosologisch-klinische Existenz der ‚Friedreichschen Ataxie’ vollkommen sichergestellt. ... Mit vollstem Rechte trägt daher die ‚hereditäre Ataxie’ Friedreichs Namen; er hat sich mit ihr in der Nervenpathologie ein bleibendes Denkmal gesetzt.” [1].

Über 100 Jahre später gelang es einer italienischen Arbeitsgruppe, das Gen der Friedreichschen Ataxie zu klonieren und die krankheitsverursachende Mutation zu beschreiben. Es handelt sich in der Regel dabei um eine GAA Triplet-Repeat-Expansion im Frataxin-Gen auf dem Chromosom 9q13, in einigen Fällen werden jedoch auch Punktmutationen beschrieben [10].

In seinem 1873 erschienenen Buch „Über progressive Muskeldystrophie” wird dargelegt, dass die progressive Muskelatrophie nicht eine spinale Genese hat, sondern eine Myopathie ist, an deren Entstehung das Nervensystem nicht beteiligt ist [6].

Mit diesen Arbeiten ist Nikolaus Friedreich „zum Wegbereiter einer neurologischen Tradition in Heidelberg geworden, weil er das öde Land der Nervenpathologie durch seine Arbeiten fruchtbar gemacht hat und weil er seinen Schülern jene sorgsame Vereinigung pathologischen-anatomischer Beobachtung als methodischen Stil weitergab.” [11].

Am 6. Juli 1882 starb Nikolaus Friedreich im Alter von 57 Jahren nach längerer Krankheit an einem Durchbruch eines Aneurysma der Aorta.

Literatur

  • 1 Erb W. Nikolaus Friedreich. In Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert. Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich. 2. Bd., 157 - 189 Heidelberg, Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1903
  • 2 Frühinsfeld J. Nikolaus Anton Friedreich. Erstbeschreiber der so genannten rheumatischen Facialisparese, Lebenslauf und Würdigung, Faksimile der deutschen Erstübersetzung. Inaugural-Dissertation, Würzburg 1983
  • 3 Rutz G. Johann Baptist Friedreich. Sein Leben und sein Einfluss auf die Gerichtsmedizin seiner Zeit. Inaugural-Dissertation, Würzburg 1975
  • 4 Friedreich N. Beiträge zur Lehre von den Geschwülsten innerhalb der Schädelhöhle. Würzburg, Verlag der Stahel’schen Buchhandlung 1853
  • 5 Virchow R. Zur Erinnerung an Nikolaus Friedreich.  Virch Arch. 1882;  90 213-220
  • 6 Kuhn E. Nikolaus Friedreich (1825 - 1882).  Med. Genetik 1994;  4 400-401
  • 7 Friedreich N. Ueber degenerative Atrophie der spinalen Hinterstränge.  Virch Arch. 1863;  26 391-419 und 433-459 und 27 : 1-6
  • 8 Friedreich N. Ueber Ataxie mit besonderer Berücksichtigung der hereditären Formen.  Virch Arch. 1876;  68 145-245
  • 9 Friedreich N. Ueber progressive Muskelatrophie, über wahre und falsche Muskelatrophie. Berlin: Hirschwald 1873
  • 10 Campuzano V, Montermini L, Molto M D, Pianese L, Cossee M, Cavalcanti F, Monros E, Rodius F, Duclos F, Monticelli A, Zara F, Canizares J, Koutnikova H, Bidichandani S I, Gellera C, Brice A, Trouillas P, De Michele G, Filla A, De Frutos R, Palau F, Patel P I, Di Donato S, Mandel J -L, Cocozza S, Koenig M, Pandolfo M. dolfo: Friedreich's ataxia: autosomal recessive disease caused by an intronic GAA triplet repeat expansion.  Science. 1996;  271 1423-1427
  • 11 Vogel P. Die Heidelberger Neurologische Schule. Heidelberger Jahrbücher XIV 1970: 73-84

Prof. Dr. med. Tiemo Grimm

Abteilung für Medizinische Genetik

Biozentrum, Am Hubland

97074 Würzburg

Email: E-mail: tgrimm@biozentrum.uni-wuerzburg.de