Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(SH2): 53-55
DOI: 10.1055/s-2001-16530
EDITORIAL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Therapie der Schizophrenien: Grundlagen und Praxis

13. Weißenauer Schizophrenie-Symposion, Bonn
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Publikationsdatum:
21. August 2001 (online)

Die mit dem ersten Symposion am 23. und 24. 4. 1971 im Psychiatrischen Landeskrankenhaus und Akademischen Krankenhaus der Universität Ulm-Weißenau begründeten Symposien wurden seither dort, dann in Lübeck-Travemünde, Bonn und Dresden durchgeführt und in einer Reihe von Sammelbänden publiziert. Die Intention war, in jedem Symposion einen wichtigen Teilaspekt des Fragenkomplexes der schizophrenen und affektiven Erkrankungen zu behandeln. So waren „Verlauf und Ausgang” (1973), „Therapie, Rehabilitation und Prävention” (1975), „Stand und Entwicklungstendenzen der Schizophrenie-Forschung” (1980), „Diagnostik, Basissymptome und biologische Parameter endogener Psychosen” (1982), „Basisstadien endogener Psychosen und das Borderline-Problem” (1984), „Fortschritte in der Psychosenforschung?” (1986), „Psychopathologie - Neurobiologie - Therapie idiopathischer Psychosen” (1990), „Perspektiven psychiatrischer Forschung und Praxis” (1992), „Persönlichkeit - Persönlichkeitsstörung - Psychose” (1994), „Moderne psychiatrische Klassifikationssysteme: Implikationen für Diagnose und Therapie, Forschung und Praxis” (1996) und „Früherkennung und Frühbehandlung schizophrener und affektiver Erkrankungen” (1998) Leitthemen der Symposionsreihe. Alle Bemühungen der neuropsychiatrischen und Hirnforschung haben letzlich Fortschritte in der Therapie und Prävention zum Ziel. Die neueren Entwicklungen in den ‚Neurosciences’ und der Psychopharmakotherapie legten es nahe, beim 13. Symposion am 5. und 6. Mai 2000 erneut, wie erstmals vor 25 Jahren, den aktuellen Wissensstand hinsichtlich Grundlagen und Praxis der Therapie der Schizophrenien als Leitthema zu wählen. Obschon das Thema so weit gespannt und komplex ist, dass es im Rahmen dieses Sonderheftes nicht erschöpfend erörtert werden kann, bieten die für bestimmte Einzelfragen besonders kompetenten Autoren Gewähr, dass unterschiedliche, zum Teil auch konträre Auffassungen aus dem Bereich der Grundlagenforschung, der Psychopharmakotherapie, Psychotherapie und Verhaltenstherapie diskutiert werden und eine Übersicht des Wissensstandes am Ende des 20. Jahrhunderts vermittelt wird.

In der Psychopharmakotherapie ergaben sich mit den atypischen Neuroleptika mit ihren geringeren oder fehlenden extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen und ihrer besseren Beeinflussung der Minussymptomatik neue Behandlungsmöglichkeiten gegenüber den konventionellen Neuroleptika. Die Fortschritte, die seit dem dritten Weißenauer Symposion (1975) für unsere Patienten erreicht wurden, sind beim Vergleich der Beiträge dieses Symposions mit denen des Symposion von 1975 wohl deutlich zu erkennen. Schon damals wurden große Hoffnungen in das Clozapin gesetzt und die Frage zum Teil kontrovers diskutiert, ob wir künftig nach den Neuroleptika alten Typs einen neuen Typ mit gleicher antipsychotischer Wirksamkeit, doch sehr viel geringerer Häufigkeit extrapyramidaler und anderer Nebenwirkungen erwarten dürfen. Tatsächlich begann die Geschichte der Atypika, von denen bislang Zotepin, Risperidon, Olanzapin, Sertindol, Quetiapin und Ziprasidon eingeführt sind, im Grunde mit Clozapin, das bevorzugt serotonerge Rezeptoren blockiert und bei dem erstmals gezeigt wurde, dass antipsychotische Wirkung nicht notwendigerweise an die D2-Rezeptorblockade gebunden ist. Doch könnten auch andere neuere Substanzen, die nur bedingt die Kriterien des nicht eindeutig zu definierenden Begriffs der ‚Atypika’ erfüllen, die Qualität der neuroleptischen Therapie in den nächsten Jahren verbessern, so das mit dem Sulpirid verwandte Amisulprid, ein selektiver Dopamin-D2- und D3-Rezeptor-Antagonist mit höherer Affinität für mesolimbische als für nigrostriatale Dopaminrezeptoren, das in niedriger Dosierung Minussymptomatik, in höherer positive Symptome beeinflussen kann.

Nach wie vor bleibt trotz aller Fortschritte eine Reihe von Problemen: Neben der niedrigen Compliance die oft noch mangelhafte Wirksamkeit der Substanzen auf die Minussymptomatik, die nicht zuletzt auch mit der unzureichenden psychopathologischen Differenzierung von (primärer und sekundärer) Negativ- und Basissymptomatik zusammenhängt (siehe die Beiträge von Böker, Gross, Süllwold und Herrlich, Huber, Klosterkötter) sowie - neben den extrapyramidalen - andere unerwünschte Wirkungen mit erheblicher Beeinträchtigung der subjektiven Befindlichkeit und Neuroleptika-Resistenz der positiven Symptomatik bei 10 - 20 % der Erkrankten. Schon immmer war klar, dass, zumal für die Langzeitbehandlung, die Pharmakotherapie zwar eine notwendige, aber für sich allein nicht zureichende Bedingung eines optimalen Therapieerfolges ist und erst die Verbindung mit Psychotherapie (Böker, Hinterhuber, Gaebel) und psychologischer Behandlung und Verhaltenstherapie (Süllwold und Herrlich, Klingberg und Buchkremer, Böker) zum bestmöglichen Ergebnis führt. Die Persönlichkeit des Arztes und eine möglichst kontinuierliche Arzt-Patient-Beziehung sind oft genauso wichtig und bei manchen Patienten wichtiger als die Medikation. Die Förderung der trotz der Erkrankung und ihrer Residuen verbleibenden Eigenaktivität und Fähigkeit zur Entwicklung von Bewältigungsstrategien ist wesentliches Prinzip der Rehabilitation, Therapie und Prävention, die mehr als bisher die interindividuell differenten, doch intraindividuell in den Prodromen vor psychotischen Rezidiven oft gleichen, kognitiven und dynamischen Basissymptome berücksichtigen muss (Süllwold und Herrlich, Gross, Klosterkötter, Huber). Die Plussymptome, psychotische Rezidive und bestimmte, übergangsrelevante kognitive (Stufe-2-)Basissymptome treten bei sozialer und arbeitsmäßiger Überstimulation häufiger und intensiver auf; teilremittierte Patienten sind für unspezifische und ubiquitäre Belastungen sehr empfindlich, ihre Toleranzschwelle für Alltagsstress ist herabgesetzt. Bestimmte sekundär-autistische Verhaltensweisen als nach dem Prinzip des Vermeidungslernens erworbene Schutzreaktionen gegenüber den von den Patienten erlebten Basissymptomen sind zu beachten und zu respektieren [1].

Neben anderen soziokulturellen und ökonomischen Gegebenheiten zeigt das Beispiel der immer noch nicht überwundenen Stigmatisierung und Diskriminierung der von der Erkrankung Betroffenen, in welchem Maße auch hier den therapeutischen Bemühungen um eine Verbesserung der Situation der Patienten Grenzen gesetzt sind. Interventionen zur Verringerung der Vorurteile der Bevölkerung gegenüber Menschen mit schizophrenen und anderen psychiatrischen Erkrankungen (Anti-Stigma-Programm der WPA, Schulunterricht), sollten denselben Stellenwert einnehmen, wie die Bemühungen zur Verbesserung der Behandlung selbst (Hinterhuber und Mitarbeiter). Während in den 70er Jahren zur Zeit des 3. Symposions nur 25 % der Patienten früh und lange genug adäquat behandelt wurden, sind es auch heute noch höchstens 50 %. Dabei könnten die Schizophrenien heute schon als weitgehend behandlungsfähige und grundätzlich heilbare Erkrankungen bezeichnet werden, wenn die Möglichkeiten der Therapie, der Primär- und Sekundärprävention der Psychose (Klosterkötter, Gross, Gaebel, Huber) und das Wissen über die neurochemischen, neuroendokrinologischen, neurophysiologischen, pharmakogenetischen und neuroimmunologischen Grundlagen der Behandlung (J. Kornhuber, Rietschel und Maier, Pollmächer) konsequent genutzt würden.

Die Glutamathypothese der Schizophrenie, die eine veränderte glutamaterge Transmission (Unterfunktion verschiedener glutamaterger NMDA-Rezeptoren) annimmt, bietet mit dem Modell eines kortiko-striato-thalamo-kortikalen Regelkreises Forschungsansätze für glutamaterge Therapiestrategien (Glutamat-Agonisten als Antipsychotika; Glyzin bzw. D-Cycloserin-Substanzen - J. Kornhuber). Die Identifizierung genetisch bedingter Unterschiede im Ansprechen auf Pharmaka kann zu neuen Behandlungsstrategien führen: Lässt sich bereits vor der Behandlung durch molekulargenetische Untersuchungen das individuelle Ansprechen auf das jeweilige Medikament bestimmen, können Behandlungsdauer verkürzt und Nebenwirkungen vermindert werden (Rietschel und Maier). Die seit den 50er Jahren bekannten Effekte klassischer Neuroleptika auf das Immunsystem sind bis heute nicht zureichend untersucht. Clozapin hat konsistente immunmodulatorische Wirkungen auf die Freisetzung von Zytokinen und löslichen Zytokinrezeptoren, die wahrscheinlich pathogenetisch relevant sind für eine Reihe von Nebenwirkungen wie Fieber und Agranulozytose, vermutlich auch Gewichtszunahme, starke Sedierung und Induktion einer diabetischen Stoffwechsellage. Hinsichtlich der den Wirkungen und Nebenwirkungen von Clozapin zugrunde liegenden Mechanismen besteht dringender Forschungsbedarf, weil von solchen Studien wesentliche Erkenntnisse in Bezug auf die Pathogenese der Nebenwirkungen und damit Impulse für die Entwicklung neuer prophylaktischer und therapeutischer Strategien zu erwarten sind (Pollmächer u. Mitarb.).

Die methodische Begründung der als „Psychotherapie bei Schizophrenien” bezeichneten unterschiedlichen Behandlungsformen reicht von unsystematischem klinischem Pragmatismus, der Psychoanalyse, der Lerntheorie, der Kognitionspsychologie und Kommunikationstheorie bis zu systematischen Konzepten. Eine generell akzeptierte differenzierte Psychotherapie scheint es noch nicht zu geben, wofür auch spricht, dass die „Behandlungsleitlinie Schizophrenie” der DGPPN wie die „Practice-guideline for the treatment of patients with schizophrenia” der APA (1997) der Psychotherapie kein eigenes Kapitel widmen. Ohne eine „basale Psychotherapie” (Böker), die an die Störungswahrnehmung der Patienten, zumal für ihre Basissymptome und ihr „subjektives psychologisches Defizit” anknüpft, ist eine befriedigende Mitarbeit des Patienten nicht möglich (Süllwold, Böker). Die Patienten müssen lernen, Rezidivprodrome mit oft intraindividuell gleichen Basissymptomen, frühzeitig zu erkennen, um so durch Adaptation der Niedrigdosis-Erhaltungstherapie das Auftreten psychotischer Episoden zu inhibieren (Gross, Huber, Süllwold). Jede primäre und sekundäre präventive Strategie erfordert die Kombination mit entsprechenden Maßnahmen der Psychoedukation, die dem Patienten dabei helfen, bestimmte Basissymptome als Prädiktoren eines drohenden psychotischen Rückfalls zu erkennen und allein oder mit Hilfe der Therapeuten zu bewältigen.

Mit den zunehmenden Kenntnissen über Frühstadien und Spektrumstörungen schizophrener Erkrankungen wird sich als kardinale Frage die Abgrenzung von gesund oder krank und behandlungsbedürftig stellen; subklinische, mit den diagnostischen Manualen nicht fassbare Spektrumerkrankungen könnten angesichts ihrer großen Häufigkeit der Stigmatisierung entgegenwirken. Bei der Früherkennung von Risikopersonen kann die Identifikation von uncharakteristischen oder schon leidlich charakteristischen Symptomen, wie sie mit der BSABS oder dem FBF möglich ist, hilfreich sein (Angst und Scharfetter). Hier steht die Schizophrenieforschung vor der Aufgabe, geeignete Instrumente zur Früherkennung prospektiv im Längsschnitt zu validieren, in epidemiologischen Entwicklungsstudien von der Kindheit an einzusetzen und so ein Bild des eigentlichen Krankheitsbeginns mit der Möglichkeit zur Frühintervention und Primärprävention der Psychose zu schaffen (Angst und Scharfetter; Gross). Die bisherigen Resultate liefern erste Hinweise für die Möglichkeit einer psychologisch-pharmakologischen Frühintervention, die die Rate psychotischer Erstmanifestationen reduziert und präventive Effekte hinsichtlich Basis- und Negativsymptomatik, Suizidalität und sozialer Behinderung erreicht [2].

Hauptziel neuroleptischer Langzeitbehandlung ist die in ihrer Wirksamkeit empirisch gut belegte Rezidivprophylaxe. Unterschiedliche Behandlungsstrategien erlauben eine individuell angepasste Erhaltungsmedikation. Eine niedrig dosierte Erhaltungstherapie mit geringerer Nebenwirkungsinzidenz ist der Standardbehandlung hinsichtlich rückfallprophylaktischer Wirksamkeit gleichwertig. Schizophrene Erkrankungen gehören zu den zehn häufigsten zu einer Behinderung führenden Erkrankungen mit Kosten, die denen somatischer Volkskrankheiten (Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen) vergleichbar sind. Das Ziel, die zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten, die denen somatischer Erkrankungen in nichts nachstehen, lege artis zu nutzen, ist noch nicht erreicht (Gaebel).

Bei den sich zunehmend ausdifferenzierenden kognitiv-verhaltenstherapeutischen Strategien gelten Strategien zur Rezidivprophylaxe und hier die verhaltenstherapeutischen Familieninterventionen als empirisch gut geprüft; wirksam sind auch Gruppeninterventionen mit Patienten und Angehörigen, die beim Patienten den Aufbau eines funktionalen Krankheitskonzepts, Verbesserung der Behandlungskooperation und der Belastungsbewältigung zum Ziel haben. Durch kombinierte Patienten- und Angehörigen-Intervention kann die Rehospitalisierungsrate gesenkt werden (Klingberg und Buchkremer).

Auch die hier vorgelegten Beiträge machen wie die der früheren Symposien die Notwendigkeit einer multifaktoriellen, mehrkonditionalen Betrachtungsweise der Erkrankung, ihrer Ursachen wie ihrer Behandlung deutlich (J. Kornhuber, Rietschel und Maier, Pollmächer, Hinterhuber, Böker, Gaebel, Klosterkötter). Hier bestand und besteht kein Dissens: Übereinstimmung in diesem Punkt ist durchaus vereinbar mit Offenheit und Unbefangenheit gegenüber sehr unterschiedlichen Wegen der Forschung, auf denen man sich dem Ziel einer Optimierung der Therapie, Rehabilitation und Primär- und Sekundärprävention der Psychose (Klosterkötter, Gaebel) nähern kann. Die Praxis der Therapie hat kritisch-eklektisch das zu berücksichtigen, was nach dem heutigen Stand unseres Wissens dem Patienten am besten helfen kann. Viele drängende Fragen sind, wie sich ergibt, noch offen oder werden noch unterschiedlich beantwortet.

Gerd Huber, Bonn

Literatur

  • 1 Huber G. (Hrsg) .Verlauf und Ausgang schizophrener Erkrankungen. 2. Weißenauer Schizophrenie-Symposion. Schattauer, Stuttgart, New York 1973
  • 2 Klosterkötter J, Gross G, Huber G, Wieneke A, Steinmeyer E M, Schultze-Lutter F. Evaluation of the „Bonn Scale for the Assessment of Basic Symptoms - BSABS” as an instrument for the assessment of schizophrenia proneness: A review of recent findings.  Neurol Psychiatry Brain Res. 1997;  5 137-150