Psychiatr Prax 2001; 28(6): 295-300
DOI: 10.1055/s-2001-16882
ERFAHRUNGSBERICHT
Erfahrungsbericht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Ich stehe immer in der Mitte” - Einzelbehandlung eines Patienten mit Schizophrenie mit Konzentrativer Bewegungstherapie in einem psychiatrischen Krankenhaus

„I am Always in the Centre” - Individual Treatment of a Schizophrenic Patient with Concentrative Physicotherapy in a Psychiatric HospitalChristoph Rother
  • Niedersächsischen Landeskrankenhaus Wunstorf
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Publication Date:
31 August 2001 (online)

Die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) hat sich zu einer eigenständigen psychotherapeutischen Methode entwickelt. Sie entstand aus der Tradition der Gymnastikbewegung der 20er Jahre und verband die Gymnastik mit den Theorien der Tiefenpsychologie. Grundlage war zunächst der Gedanke von E. Gindler, sich von festgelegten und direktiven Bewegungsanleitungen zu lösen und eigene Bewegungsimpulse des Menschen zu fördern [1]. Ein weiteres charakteristisches Element der KBT ist der Einsatz von Gegenständen auf realer und symbolischer Ebene. Dabei kann Unbewusstes wahrnehmbar und der verbalen Reflexion zugänglich werden. Die verbale Bearbeitung folgt überwiegend tiefenpsychologischen Prinzipien [1] [2].

Die Arbeit von E. Gindler hatte pädagogischen Charakter und wurde zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung eingesetzt [3], durch Stolze [4] wurde sie bei Patienten mit psychosomatischen und neurotischen Störungen eingesetzt (vgl. auch [5]). In modifizierter Form wird die KBT in jüngster Zeit zunehmend auch in psychiatrischen Kliniken angewendet. Dabei hat vor allem Krietsch sog. „Übungsrichtlinien” für die Arbeit mit schizophrenen Patienten entwickelt [6] [7].

Scharfetter [8] ordnet das Krankheitsbild der Schizophrenie in ein Modell der Ich-Störungen ein. Dabei verwendet er den Begriff des Ich nicht wie die Tiefenpsychologie im Sinne Freuds. Vielmehr beschreibt er damit basale Dimensionen des Lebensgefühls. Die Schizophrenie ist demnach nicht nur eine Störung von Sprach-, Denk- und Symbolisierungsfähigkeit, sondern auch eine Krankheit, die die elementaren Schichten der Existenz betrifft. Scharfetter [8] unterscheidet fünf Dimensionen des Ich-Bewusstseins, die bei Schizophrenen gestört sein können:

die Ich-Vitalität, die Ich-Aktivität, die Ich-Konsistenz, die Ich-Demarkation und die Ich-Identität.

Der Begriff der Ich-Vitalität beschreibt die Fähigkeit, sich als lebendig wahrzunehmen. Die Störung dieser Fähigkeit äußert sich bei Schizophrenen häufig in dem Gefühl, sich nicht zu spüren, sich nicht als lebendig zu fühlen und sich in ihrer Existenz infrage zu stellen. Hierdurch entsteht eine tiefgreifende Unsicherheit und Irritation.

Die Ich-Aktivität stellt die Fähigkeit dar, aus sich selbst heraus zu handeln, zu fühlen und zu denken. Bei Störungen dieser Fähigkeit kommt es zu einem Gefühl der Fremdsteuerung und Fremdbeeinflussung sowie zu einer Empfindung des „Gelähmtseins” von Gefühlen, Handlungen und Denkabläufen.

Die Ich-Konsistenz (bzw. -Kohärenz, vgl. [6]) beschreibt die Fähigkeit, sich als Ganzes wahrzunehmen, körperlich, gedanklich und gefühlsmäßig eine Einheit zu sein. Wenn diese Fähigkeit gestört ist, können Verbindungen von Körper, Gedanken und Gefühlen nicht mehr wahrgenommen werden, so dass ein Gefühl der Verwirrung und Desorientiertheit resultiert.

Unter Ich-Demarkation versteht Scharfetter [8] das Vermögen, das eigene Ich vom Nicht-Ich abzugrenzen, wobei hierunter noch nicht das Ich eines Gegenübers (im Sinne des „Du”) gemeint sein muss. Bei Störungen kann zwischen Eigenem und Fremdem und zwischen innen und außen nicht mehr unterschieden werden, was bis zu einem Verlust an Abgrenzung gegenüber anderen Personen bzw. zu Verschmelzungs- bzw. Auflösungsphänomenen führt.

Als Ich-Identität bezeichnet Scharfetter [8] die Fähigkeit, eine Identität zu entwickeln und wahrzunehmen, was körperliche und emotionale sowie Persönlichkeitsbereiche einschließt. Die Störung dieses Persönlichkeitsfaktors führt zu Unsicherheit über die eigene Identität, zur Angst des Identitätsverlusts oder zu Indentitätsverlust selbst, d. h. zur Annahme einer anderen Identität.

Im Einzelfall finden sich naturgemäß unterschiedliche Ausprägungen und Kombinationen dieser Störungsbilder. Daher muss eine Behandlung stets individuell auf den einzelnen Patienten bzw. die aktuelle Situation abgestimmt werden. Die sog. Übungsleitlinien von Krietsch u. Heuer [6] können somit nicht als Anleitung zu einem durchgängigen Behandlungsablauf aufgefasst werden, vielmehr müssen die im Folgenden genannten Elemente im Einzelfall ausgewählt und gegebenenfalls variiert werden.

Krietsch u. Heuer [6] nennen in Analogie zu den von Scharfetter [8] beschriebenen Ich-Fähigkeiten bzw. -Störungen bei Schizophrenen in ihren Übungsrichtlinien die folgenden Elemente der Therapie. Sie beziehen sich dabei unter anderem auf die Konzentrative Bewegungstherapie sowie auf die Funktionelle Entspannung nach Fuchs [9]. Dabei bewegen sie sich überwiegend auf den sensomotorischen und sozioemotionalen Ebenen der Bewegungstherapie (vgl. [10] [11]).

1) Die Beziehung zum eigenen Körper:

Durch Angebote zur Körperwahrnehmung wird ermöglicht, die Realität des eigenen lebendigen Körpers zu erleben und sich damit als leibliche Person wahrzunehmen.

2) Die Beziehung zu Raum und Zeit:

Durch Angebote, die die reale Raum-zeit-dimension, z. B. durch Rhythmus und Bewegung, beinhalten, wird ermöglicht, sich in Raum und Zeit real eingeordnet zu erleben.

3) Die Beziehung zu den Dingen der Welt:

Durch Angebote mit Gegenständen wird ermöglicht, diese real in ihrer jeweiligen Eigenart und ihre Möglichkeiten im Handeln zu erleben.

4) Die Beziehung zu den Mitmenschen:

Durch Angebote zu zweit, in einer kleineren oder mit der gesamten Gruppe wird ermöglicht, Erfahrungen von Kontakt und Beziehung zu machen.

Heuer [12] [13] schlägt eine Modifikation und Erweiterung unter Einbeziehung spezieller Elemente der Konzentrativen Bewegungstherapie vor. Der Therapeut muss aktiv eine Beziehung zu dem Patienten herstellen und sich aktiv einbringen. Der Therapeut strukturiert wesentlich mehr, einerseits in der Form des Angebotes, andererseits im zeitlichen Rahmen. So macht er konkretere Angaben und bleibt im verbalen begleitenden Kontakt [14]. Der Therapeut ermöglicht dem Patienten in diesem begrenzteren Spielraum, sich auf Wahrnehmungs- und Bewegungserlebnisse einzulassen. Der Therapeut übernimmt damit Ich-Funktionen. Auch muss die verbale Bearbeitung der Erfahrungen sich dem Ausmaß der Ich-Störung anpassen. So hilft der Therapeut, Worte für die Erfahrungen zu finden. Anregungen zu Assoziationen und das Erkennen von Symbolgehalt sollten ebenfalls der Ich-Störung entsprechend eingesetzt werden. Als Beispiel für einen KBT-spezifischen Umgang mit schizophrenen Patienten werden an dieser Stelle Elemente aus einem Behandlungsverlauf mit einem einzelnen Patienten im Rahmen der Konzentrativen Bewegungstherapie in einem psychiatrischen Krankenhaus geschildert. Diese Behandlung umfasste 30 Einzelsitzungen à 30 bis 45 Minuten über einen Zeitraum von insgesamt vier Monaten.

Literatur

  • 1 Becker H. Konzentrative Bewegungstherapie. Stuttgart; Thieme 1981
  • 2 Budjuhn A, Carl A, Lechler H. Konzentrative Bewegungstherapie Fallbeispiele. Ettlingenweier; Selbstverlag 1995
  • 3 Lechler H. Die Fundierung der Konzentrativen Bewegungstherapie in der Bewegungsarbeit Elsa Gindlers und ihre Weiterentwicklung. In: Stolze H (Hrsg) Die Konzentrative Bewegungstherapie. Berlin; Verlag Mensch und Leben 1984: 260-277
  • 4 Stolze H. Psychotherapeutische Aspekte einer Konzentrativen Bewegungstherapie. In: Stolze H (Hrsg) Die Konzentrative Bewegungstherapie. Berlin; Verlag Mensch und Leben 1984: 15-27
  • 5 Becker H. Bewegung und Therapie aus der Sicht der Psychoanalyse. In: Hölter G (Hrsg) Bewegung und Therapie. Dortmund; Verlag modernes Lernen 1988: 67-75
  • 6 Krietsch S, Heuer B. Schritte zur Ganzheit, Bewegungstherapie mit schizophrenen Kranken. Stuttgart; Gustav Fischer 1997
  • 7 Heuer B, Schürmann-Walker C. Konzentrative Bewegungstherapie mit schizophrenen Kranken.  Konzentrative Bewegungstherapie Zeitschrift des DAKBT. 1990;  19 53-71
  • 8 Scharfetter C. Schizophrene Menschen. Weinheim; Beltz 1995
  • 9 Fuchs M. Funktionelle Entspannung. Stuttgart; Hippokrates 1998
  • 10 Braun E. Bewegungstherapie in der Psychiatrie. In: Cotta H, Heipertz W, Hüter-Becker A, Rompe G (Hrsg) Krankengymnastik Band 10, Psychiatrie und Querschnittlähmungen. Stuttgart; Thieme 1983: 58-106
  • 11 v Uexküll T, Fuchs M, Müller-Btraunschweig H, Johnen R. Subjektive Anatomie - Theorie und Praxis körperorientierter Psychotherapie. Stuttgart; Schattauer-Verlag 1994
  • 12 Heuer B. KBT in Prävention und Therapie, Körpertherapie mit schizophrenen Kranken.  Konzentrative Bewegungstherapie Zeitschrift des DAKBT. 1996;  26 147-160
  • 13 Heuer B. Die Modifizierung der Konzentrativen Bewegungstherapie in der Arbeit mit schizophrenen Kranken. In: Krietsch S, Heuer B Schritte zur Ganzheit, Bewegungstherapie mit schizophrenen Kranken. Stuttgart; Gustav Fischer 1997: 123-126
  • 14 Becker H, Brand R. Die Behandlung von Angstsymptomen durch die Konzentrative Bewegungstherapie. In: Stolze H (Hrsg) Die Konzentrative Bewegungstherapie. Berlin; Verlag Mensch und Leben 1984: 356-364
  • 15 Scheepers C. Wahrnehmungsbehandlung schizophrener Ich-Störungen.  Ergotherapie. 1993;  1 27-32
  • 16 Gindler E. Die Gymnastik des Berufsmenschen. In: Stolze H (Hrsg) Die Konzentrative Bewegungstherapie. Berlin; Verlag Mensch und Leben 1984: 227-233
  • 17 Krietsch-Mederer S. Bewegungstherapie mit Schizophrenen.  Krankengymnastik. 1968;  20 6-9
  • 18 Winnicott D W. Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart; Klett-Cotta 1993

Christoph RotherTherapeut für Konzentrative Bewegungstherapie 

Niedersächsisches Landeskrankenhaus Wunstorf

Südstraße 25

31515 Wunstorf