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DOI: 10.1055/s-2001-16884
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Psychiatrische Klassifikation von ICD
Vom Schreien[1] Psychiatric Classification of ICDPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. August 2001 (online)

Dass unsere Vorgänger im letzten Jahrhundert zum Teil ausgezeichnete Beobachter sein konnten, war mir bewusst. Dass sie aber eine eigentliche Phänomenologie des Schreiens ausgearbeitet hätten erfuhr ich erst, als mir zufällig ein Buch von R. Küttner aus dem Jahre 1836 in die Hand fiel. Er hat es „Medizinische Phänomenologie, ein Handbuch für die ärztliche Praxis” genannt. Von der Magenschwäche bis zum Zungenzittern wird da auf breitem Raum alles Mögliche definiert und diskutiert. Wir hören von den verschiedenen Mienen. Küttner beschreibt die betrübte Miene, die fremdartige Miene, die furchtsame, die heitere, die listige, die wechselnde, die er lateinisch „vultus variabilis” nennt. Zur letzteren sagt er:
„Der schnelle, häufige Wechsel des Angesichtsausdrucks bei Kranken, so dass sie bald heiter, bald traurig scheinen, ist im Allgemeinen keine ungünstige Erscheinung, denn er deutet meist auf bedeutende Aufregung des Gehirns und Nervensystems, auf Neigung zu Zuckungen und Irrereden hin, wenn er nicht etwa selbst schon eine Folge des letzteren ist. In besonders hohem Grade beobachtet man diese Eigentümlichkeiten bei Hypochondristen und Hysterischen.”
Aber nicht von der Miene soll hier die Rede sein, sondern vom Schreien. Nach einem allgemeinen Exkurs über das Schreien (Clamor) legt Küttner eine ausführliche Liste der verschiedenen Schreiformen (oder sollte man sagen Schreiarten) vor. Ich gebe sie hier ungekürzt wieder:
Abgebrochenes Schreien, Clamor interceptus. Hier vermutet er einen entzündlichen Zustand der Lungen und Bronchien. Man finde es auch bei exanthemischem Fieber, und es könne Vorbote des tödlichen Ausgangs sein. Dumpfes Schreien (Clamor abtusus). Das lasse auf ein Hindernis in den Respirationsorganen schließen. Feines, hohes Schreien (Clamor altus). Ein dem Mäusequietschen ähnliches Schreien hätten die Kinder mit Kinnbackenkrampf. Hastiges, beschleunigtes Schreien (Clamor properanus). Das laute, äußerst kurze, kräftige, sich während des Einatmens wiederholende Schreien sei ein Zeichen von Bauchkrankheiten. Helles Schreien (Clamor clarus). Dies sei ein günstiges Zeichen, es lasse auf Kraft schließen. Kreischendes Schreien (Clamor argutus). Das sei ein Zeichen von Schreck. Es könne aber auch den Anfang eines Croup bedeuten. Meckerndes, zitterndes Schreien (Clamor caprizans, tremulans). Nach Küttner ein Zeichen von unvollkommenem Kampf der Stimmritzen, Ödem des Kehlkopfdeckels; es werde bei Darmentzündungen gefunden sowie bei Wurmleiden. Näselndes Schreien (Clamor nasalis). Dies sei ein Ausdruck von Schnupfen, Nasenverstopfung, könne aber auch ein Zeichen von Hirnleiden sein. Rauhes, grobes Schreien (Clamor asper). Zeichen von Unartigkeit. Schluchzendes Schreien (Clamor singultuosus). Es lasse vorzugsweise auf Kehlkopfleiden schließen, Croup, Halsdrüsenschwellungen. Schwaches, mattes Schreien (Clamor debilis). Könne Durst bedeuten, häufig aber auch ein Zeichen von Schwäche und heftigen inneren Entzündungen sein.
Man sieht, Dr. Küttner hat sich Mühe gegeben, ein ganzes Register aufzustellen, wobei ich nicht einmal alle Modulationen berücksichtigt habe, indem es nach ihm noch ein beschleunigtes, ein durchdringendes, ein gellendes, ein heiseres, ein wimmerndes Schreien gibt.
Näheres über das Leben und Wirken dieses Robert Küttner zu erfahren, ist mir nur unvollständig gelungen. Gemäß dem Schriftstellerlexikon von 1841 und der Übersicht von H. E. Kleine lebte er von 1809 bis 1896, doktorierte 1831 in Leipzig mit einer lateinischen Dissertation über interne Hämorrhagien und veröffentlichte ein Jahr nach dem hier erwähnten Buch über medizinische Phänomenologie noch eine „Parallele der älteren und neueren sächsischen Pharmacopoe”. Wir erfahren auch, dass er offenbar zeitlebens in Dresden praktizierte. 1834 gründete er zusammen mit zwei Kollegen, E. Richter und O. Rohlschütter, eine poliklinische Kinderheilanstalt. Kleine-Natrop schreibt: „Am 1. September wurde die zunächst private Anstalt, die damals nur Vorbilder in Paris, Wien, London und Berlin hatte, in der Wohnung des Chirurgen Zeis an der Seestraße eröffnet. 1840 konnte sie durch Stiftung Dresdener Bürger die ersten vier stationären Betten einrichten. … Als Richter an die Akademie berufen wurde, gab er seine Mitarbeit an der Kinderheilanstalt auf. Küttner blieb bis zu seinem Lebensende ihr Leiter.”
Soll man über die Pedanterie Küttners lachen oder aber soll man sie positiv verbuchen und sich Gedanken darüber machen, warum er zu so subtilen Unterscheidungen kam? Seine Epoche war ja in der Medizin dadurch gekennzeichnet, dass radikale Forderungen aufgestellt wurden nach gründlichster Beobachtung und detailliertester Beschreibung. Fortschritte in der Medizin waren für die damaligen Zeitgenossen mit möglichst präziser Registrierung der Phänomene verknüpft. Das war, wie man weiß, das Verdienst vor allem der französischen Schule.
Die Neuzeit hat sich indessen auch um das Schreien gekümmert, und ganz besonders die Psychiatrie. Wir wollen zwar nicht mehr klassieren, aber doch aufmerksam sein, wenn da geweint und geschrieen wird. Das unaufhörliche Schreien auf den unruhigen Abteilungen der psychiatrischen Krankenhäuser gehört zum Glück der Vergangenheit an. Das Schreien wird also nicht mehr den „Tobsüchtigen” überlassen; die moderne Psychiatrie hat sogar Mittel und Wege gefunden, um das Schreien in ihr therapeutisches Programm einzubauen. Ich meine damit selbstverständlich die Urschreitherapie von Janov. Sie hat vor Jahren Schlagzeilen gemacht. Heute ist sie zwar nicht in Vergessenheit geraten, aber doch in den Hintergrund getreten. Wir müssten also der Küttnerschen Liste noch eine Kategorie beifügen, nämlich den „Clamor therapeuticus”.
1 Quellenangabe: aus Christian Müller: Wer hat die Geisteskranken von den Ketten befreit? Skizzen zur Psychiatriegeschichte. Bonn: Edition das Narrenschiff, 1997.
Literatur
- 1 Callisen A CP. Medicinisches Schriftsteller-Lexicon. Copenhagen; Königl. Taubstummeninstitut Schleswig 1841
- 2 Janov A. Der Urschrei. Ein neuer Weg der Psychotherapie. Frankfurt; Fischer-Verlag 1973
- 3 Kleine-Natrop H E. Das heilkundige Dresden. Dresden u. Leipzig; Verlag Th. Steinkopff 1864
- 4 Küttner R. Medicinische Phaenomenologie. Leipzig und Wien; 1836
1 Quellenangabe: aus Christian Müller: Wer hat die Geisteskranken von den Ketten befreit? Skizzen zur Psychiatriegeschichte. Bonn: Edition das Narrenschiff, 1997.