Krankenhauspsychiatrie 2001; 12(3): 93
DOI: 10.1055/s-2001-17648
EDITORIAL

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Herzlichkeit” und „Herz” in der Patienten-Begegnung

“Winning the Patient’s Heart”
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Publication Date:
05 October 2001 (online)

Es fällt eine große Diskrepanz auf zwischen dem, was Patienten an „Herzlichkeit” oder „Herz” von ihren Therapeuten erwarten, und dem, was ihnen im allgemeinen Medizin- und Therapie-Getriebe davon tatsächlich entgegenkommt. Es scheint auch ungewöhnlich, im Zusamenhang mit Patientenkontakten das „Herz” ins Spiel zu bringen. Und am wenigsten selbstverständlich ist es dort, wo die menschlich-therapeutische Beziehung am intensivsten ist, nämlich in der Psychotherapie. Hierzu passt, dass man in den Stichwortverzeichnissen selbst umfangreicher psychologischer oder psychotherapeutischer Werke den Begriff „Herzlichkeit” vergebens sucht, ganz im Gegensatz zu dem hohen Stellenwert und Umfang des Themas „Herz” und „Herzlichkeit” in der sonstigen Literatur, vor allem in der Belletristik und Lyrik. Die Polarität „Verstand”/„Herz” durchzieht die gesamte Geistes- und Philosophiegeschichte, und das „Herz” gilt seit alters als Sitz der Seele oder als personale Mitte des Menschen. Dass ein Mensch „Herz” hat, dass er etwas „aus dem Herzen” tut, und von daher auch „Herzlichkeit” zeigen kann, ist im allgemeinen Urteil gleichbedeutend mit einer positiven Bewertung seiner Einstellung überhaupt. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, in welch anderer Weise therapeutische Beziehungen vom theoretischen oder praktischen Ansatz her strukturiert sind. Gerade in der Psychiatrie und Psychotherapie ist die richtige Handhabung von Nähe und Distanz ein eigenes therapeutisches Element von großer Bedeutung. Wer hier nicht zu differenzieren gelernt hat, dem unterlaufen therapeutische Fehler. In der Begegnung z. B. mit einem schizophrenen Patienten, dessen Ich-Schwäche und Angst vor zu viel Nähe keinesfalls eine „naive” emotionale Herzlichkeit verträgt, wird dies besonders deutlich. Umgekehrt kann das gesteigerte Bedürfnis eines depressiv Kranken nach permanenter Nähe und symbiotischer Umarmung durchaus kurzfristig durch intensive Herzlichkeit gestillt und ihm so das Gefühl des Angenommenseins ermöglicht werden, unabhängig natürlich von der weiterhin notwendigen klaren therapeutischen Strukturierung. So mancher Anfänger mit noch nicht erkanntem und noch nicht integriertem Helfer-Syndrom tappt hier ja in typische therapeutische Beziehungsfallen. In der Psychotherapie im engeren Sinn freilich scheint mir die praktizierte methodische und persönliche emotionale Distanz allzu oft von - dazuhin meist unerkannter - fataler Wirkung zu sein. Die von der klassischen Psychoanalyse herrührende sog. „Abstinenz”- oder „Spiegel”-Haltung hat hier oftmals einen weit über ihren eigentlichen Sinn hinausreichenden Stil der unverbindlichen Zurückhaltung und emotionalen Kühle erzeugt, den schon Sigmund Freud selbst bei einigen seiner Schüler als „verdrossene Indifferenz” kritisiert hat. Von den Patienten wird dies ja überaus häufig als subtile Abwertung erlebt. Die methodisch richtige Distanz und gleichzeitig die gebotene richtige „herzliche” Nähe herzustellen, ist offensichtlich eine hohe therapeutische Kunst, die gleichzeitig viel menschlichen Einsatz erfordert. Nicht wenige Therapeuten ziehen es daher vor, sich grundsätzlich bedeckt und reserviert zu verhalten. Und wahrscheinlich hat so die scheinbar schulmäßige Anwendung der Abstinenz- und Passivitätsregel in der Psychotherapie dem Umfang nach weit mehr psychisches Unheil angerichtet als gewisse vereinzelte Überschreitungen der gebotenen Nähe- und Intimitätsgrenzen. Nicht jeder ist in der Lage, und nicht jedem liegt es, „Herz” und „Herzlichkeit” spürbar zu zeigen. Bei manchen sind sie in der therapeutischen Beziehung eher versteckt da und dennoch wirksam. Es ist letztlich eine Frage der Wertschätzung des jeweiligen Patienten und der Einfühlung in seine innere Situation, oft auch des Umgangs mit der eigenen Angst vor zu viel Nähe. Für die einzelnen Betroffenen jedenfalls ist es ein kaum zu unterschätzendes positives therapeutisches Element, wie viel „Herz” sie bei ihrem Therapeuten spüren oder wenigstens ahnen können. Nicht selten vermag wohl auch schon etwas mehr Freundlichkeit oder Geduld eine solche Ahnung aufkommen zu lassen. Und man kann sich als Therapeut ja auch auf diesem Gebiet weiterentwickeln … Günter Hole, Weissenau