Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2001; 36(11): 661-663
DOI: 10.1055/s-2001-18052
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kann die Narkosetiefe gemessen werden?

Monitoring Depth of Anaesthesia: possible or not?E.  Kochs, G.  Schneider
  • Klinik für Anaesthesiologie, Technische Universität München, Klinikum rechts der Isar
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Publikationsdatum:
26. Oktober 2001 (online)

Die Beantwortung der Frage, ob die Narkosetiefe gemessen werden kann, setzt eine Definition des Begriffes „Narkosetiefe” oder auch weitergehend des Begriffes „Anästhesie” voraus. Beide Begriffe sind nicht synonym zu verwenden. Für die weiteren Überlegungen setzen wir den Begriff Anästhesie synonym für Vollnarkose. Die anästhesiologische Wissenschaft hat bisher keine eindeutige und allumfassende Definition für den Zustand „Anästhesie” liefern können. Aus einer fehlenden Definition heraus folgt auch die Unschärfe des Begriffes Anästhesie. Wie müssen die Phänomene Gedächtnisfunktion, Bewusstlosigkeit, Schmerzunempfinden, sensorische und vegetative Blockade zusammenwirken, damit hieraus der Zustand Anästhesie entsteht? Bedeutet die Situation einer intraoperativen Wahrnehmung lediglich ein relativ zu flaches Anästhesieniveau oder ist der Patient einfach wach und es handelt sich hierbei gar nicht mehr um eine Anästhesie? Aus welchen Überlegungen heraus geht man von graduell oder diskret veränderbaren Anästhesietiefen aus? Hierzu führte wohl gleich zu Beginn der klinischen Anästhesie die Beobachtung, dass erhöhte Anästhetikadosen zu klinisch unterscheidbaren Stadien etwa im Sinne des Guedel-Schemas führen. Weiterhin werden viele Nebenwirkungen dosisabhängig hervorgerufen. Grundsätzlich bedeutet dies jedoch nicht, dass die Narkose ein Kontinuum durchläuft, selbst wenn der messbare Funktionszustand etwa anhand des EEG dosisabhängige Veränderungen zeigt. Auch ein nicht-skalierbarer Zustand „Anästhesie” wäre grundsätzlich mit graduellen anästhetikainduzierten Unterschieden in einzelnen Organfunktionen kompatibel. Dann würde der Zustand „Anästhesie” quasi im Sinne einer Sprungfunktion aufzufassen sein, die entweder einen anästhesierten oder nicht-anästhesierten Patienten beschreibt. Sobald eine „funktionelle Schwelle” überschritten wird, wäre dann der Patient als anästhesiert aufzufassen. Unabhängig davon gäbe es dann noch weitere Anästhetikawirkungen, die allerdings den Zustand der Anästhesie nicht mehr ändern, sondern lediglich Epiphänomene desselben darstellen.

Das Fehlen einer wissenschaftlich begründbaren Definition für das Gesamtphänomen Anästhesie und damit verbunden die Frage, ob es überhaupt graduelle Abstufungen der Narkose gibt, spiegelt sich auch im Artikel von Lehmann et al. in diesem Heft wider. Die hier zitierte Arbeit von Prys-Roberts definiert Narkose als „einen medikamentös hervorgerufenen Bewusstseinsverlust, bei dem der Patient schmerzhafte Stimuli weder wahrnimmt noch erinnert”. Narkose ist somit ein „Alles oder Nichts”-Zustand, weder verschiedene Grade noch Veränderungen der „Narkosetiefe” existieren [1]. Die Problematik fehlender Definition des Begriffes Narkose wird durch Prys-Roberts somit auf die Begriffe „Wahrnehmung oder Erinnerung schmerzhafter Stimuli” und „Bewusstseinsverlust” verlagert. Zu klären ist bei ersterem Begriff, ob nach vorliegender Definition unter Allgemeinanästhesie Analgesie (Ausschaltung bewusster Wahrnehmung von Schmerzen) oder Antinozizeption (Unterdrückung nozizeptiver Informationen aus der Körperperipherie) anzustreben sei [2]. Die Komplexität der Problematik einer Definition von „Bewusstseinsverlust” spiegelt sich unmittelbar in einer Vielzahl klinischer Studien zum Thema „Narkosetiefe” und deren Monitoring wider.

Zur Quantifizierung verschiedener Narkosestadien werden hierbei definierte klinische Reaktionen herangezogen, häufig sind dies Bewegungsreaktionen auf einen Stimulus (z. B. Hautschnitt), hämodynamische Reaktionen auf Schmerzreize (Anstieg von Herzfrequenz und/oder Blutdruck), die Beantwortung einer Aufforderung, sowie postoperative Erinnerung von Ereignissen, unterteilt in bewusste („explizite”) und unbewusste („implizite”) Erinnerung. Die genannten klinischen Parameter stehen jedoch nur zum Teil in Verbindung zueinander, sie bilden ebenfalls kein Kontinuum unterschiedlicher Narkosetiefe. Ein Verfahren zur Bestimmung der Narkosetiefe, das sich als besonders geeignet erweist, einen dieser Zustände zu erkennen wird andere Modalitäten der Narkosetiefe nicht automatisch ebenfalls gut erkennen. Im Falle der Bewegungsreaktionen auf Hautschnitt lässt sich diese Differenz einfach erklären, da Bewegungsreaktionen auf Hautschnitt auf spinaler Ebene verarbeitet werden [3] [4], bei Aktionen wie gezieltem Befolgen einer Aufforderung oder Erinnerung von Ereignissen jedoch kortikale und subkortikale Bereiche involviert sind. Die in der modernen Anästhesieführung übliche Polypragmasie erschwert durch den differenzierten Einsatz von Analgetika, Sedativa, Hypnotika und kardiovaskulär wirksamen Medikamenten zusätzlich eine Beurteilung, da beispielsweise hämodynamische Reaktionen auf Schmerzreize durch kardiovaskulär wirksame Medikamente blockiert sein können, oder hochdosierte Opioide Schmerzreaktionen unterdrücken können, ohne dass sie dabei gleichzeitig zu Bewusstseinsverlust führen müssten. Doch nicht nur der MAC-Wert eines Anästhetikums - dessen Berechnung ja auf der Beobachtung einer Bewegung nach Hautschnitt beruht - ist ein nur bedingt geeigneter Parameter zur Quantifizierung der Auswirkungen von Anästhesie auf das Gehirn. Auch andere klinisch genutzte Zeichen für die Abschätzung der Narkose können nur als mehr oder minder geeignete Surrogatparameter zur Anwendung kommen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, eine Überwachung des Gehirns als dem primären Zielorgan der Allgemeinanästhesie zu etablieren. Zum Einsatz kommen hier vor allem das spontane EEG sowie akustisch evozierte Potentiale (AEP) als Reaktion des Gehirns auf einen akustischen Stimulus.

Die Geschichte des EEG ist unmittelbar mit Untersuchungen der Anästhetikawirkung verbunden. Bereits 1931 beschrieb Berger charakteristische Veränderungen des EEG durch Äther [5]. In zahlreichen Untersuchungen konnte in Folge gezeigt werden, dass der Einfluss von Narkose das EEG in charakteristischer Art und Weise verändert. Im Prinzip handelt es sich hierbei um eine Verlangsamung der vorherrschenden Frequenzen bei gleichzeitiger Zunahme der Amplituden. Bei weiterer Konzentrationserhöhung tritt Burst-Suppression auf, gefolgt von elektrischer Stille. Jedes Medikament ist jedoch hierbei durch charakteristische Veränderungen gekennzeichnet, die dem Ungeübten eine Beurteilung erschweren. Gänzlich unübersichtlich wird die Situation bei Anwendung verschiedener Kombinationen von Medikamenten. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten konnten dosisabhängige EEG-Veränderungen beschrieben werden, zum Teil wurde hierbei auch versucht, diese Veränderungen mit Änderungen der „Narkosetiefe” zu korrelieren ohne hierfür eine wissenschaftstheoretische Grundlage bieten zu können.

Deutlich jünger als die Anwendung des EEG ist die Verwendung akustisch evozierter Potentiale (AEP) zur Quantifizierung der Narkosetiefe. In diesem Zusammenhang werden vor allem charakteristische Veränderungen der mittleren Latenzen des AEP (MLAEP) herangezogen. In zahlreichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass medikamentenunabhängig Schwellenwerte existieren, ab denen akustische Reize wahrgenommen werden und die Gefahr intraoperativer Wahrnehmung mit eventueller postoperativer Erinnerung besteht [6]. Beurteilungsschwierigkeiten während Narkose lassen sich durch mathematische Verfahren, z. B. Wavelet-Transformation bewältigen [7]. In einer neueren Arbeit gelingt es sogar, durch Anwendung des auf MLAEP basierenden AEP-Index Reaktionen auf Hautschnitt vorherzusagen [8].

Von den von Lehmann et al. beschriebenen Berechnungsverfahren zur Vereinfachung der EEG- und AEP-Interpretation sind die Narkoseindices deutlich abzutrennen. So liefert ein Narkosetiefeindex keinen direkt abgeleiteten physiologischen Parameter als Messwert. Die berechneten Indices stellen allesamt das Ergebnis einer mehr oder minder komplexen Berechnung dar und dürfen nicht mit direkt gemessenen physiologischen Parametern wie Blutdruck oder Herzfrequenz gleichgesetzt werden. Die Festlegung von Schwellenwerten eines so genannten Narkosetiefe-Index beinhaltet in der Regel Untersuchungen an Patientenkollektiven. Dies geschieht in klinischen Studien unter mehr oder minder artifiziellen Bedingungen. Die mathematisch-statistischen Berechnungen dieser Schwellenwerte stellen somit auch ein Wahrscheinlichkeitsmaß für den zu beurteilenden Zustand dar. Hierbei ist für einen Monitor zur Detektion von Wachheit ein ausgesprochen hohes Maß an Sensitivität zu fordern, d. h. auftretende intraoperative Wachheit muss mit großer Sicherheit erkannt werden. Da bei klinischer Narkoseführung die Inzidenz von Wachheit mit Erinnerung nur 0,10 - 0,18 % beträgt [9], sind an ein Verfahren, mit dessen Hilfe Wachheit vermieden werden soll ausgesprochen hohe Anforderungen zu stellen. Die Spezifität angezeigter Wachheitszustände sollte jedoch ebenfalls so hoch wie möglich sein, da ansonsten bei fälschlich angezeigter Wachheit unnötig tiefe Narkosen mit entsprechenden Medikamentennebenwirkungen sowie verzögerter Erholung nach Narkose die Folge wäre.

Dazu kommt, dass auf einer Skala von 100 (wach) bis 0 (tief bewusstlos) ein Index-Wert von 60 nicht als eine halb so tiefe Narkose wie ein Index von 30 interpretiert werden kann, d. h. die Nichtlinearität derartiger Skalen ist evident, obwohl nicht klar ist, welcher Funktion sie denn überhaupt im Hinblick auf die Narkosetiefe folgen. Dies wird nach dem eingangs gesagten auch nicht möglich sein, zumindest solange nicht, solange keine generelle Funktion für den Zustand Anästhesie gefunden werden kann.

Während nach bisherigem Erkenntnisstand AEP-Parameter den EEG-Parametern in der Detektion von Wachheit überlegen sind [10] [11] [12], liefern EEG-Parameter über weitere Bereiche Informationen über konzentrationsabhängige Veränderungen der Funktion bestimmter Hirnareale, wobei jedoch anhand von EEG-Parametern keine scharfe Trennung zwischen wach und bewusstlos vorgenommen werden kann [13]. Hier wäre also nach momentanem Stand eine Differenzierung zwischen einem Monitor für Anästhetikaeffekte am Gehirn (EEG-basiert) und einem Monitor zur Detektion intraoperativer Wachheit (AEP-basiert) angebracht.

Trotz oder wegen dieser Einschränkungen haben sich Lehmann et al. in dieser Ausgabe mit einer Untersuchung das Ziel gesetzt, die diversen, bislang auf dem Markt befindlichen Überwachungsgeräte und die hierin realisierten Methoden darzustellen und zu bewerten. Es handelt sich hierbei einerseits um eine Marktübersicht andererseits aber auch um eine Hilfestellung bei der zunehmend häufiger gestellten Frage, welche Methode bzw. welches Gerät denn für die Narkoseüberwachung, bei welcher Situation und bei welchem Eingriff geeignet ist. Im Sinne der oben gemachten Ausführungen sind sich die Autoren darüber im klaren, dass „wir nicht wissen, was genau gemessen werden soll”. Insofern muss jede bewertende Äußerung zur Messmöglichkeit der Narkosetiefe sehr zurückhaltend erfolgen.

Ein weiteres Problem, welches die Autoren richtig dargestellt haben, ist die bislang nicht gegebene Vorhersagbarkeit einer ausreichenden Anästhesie für zu erwartende schmerzhafte Eingriffe wechselnder Intensität. Hier weist eine neuere Studie darauf hin, dass es mit neueren Verfahren unter Zuhilfenahme akustisch evozierter Potentiale möglich sein könnte, auch prädiktive Aussagen über eine ausreichende Anästhesie treffen zu können [8].

Trotz all dieser Limitierungen ist es ein lohneswertes Ziel zum jetzigen Zeitpunkt die verfügbaren Methoden und die geräteseitige Leistungsbreite für den nicht auf diesem Gebiet spezialisierten Anästhesisten darzustellen.

Wegen eines fehlenden Standards in der Definition der Narkosetiefe und der hiermit korrelierten funktionellen Größen ist es unseres Erachtens zum jetzigen Zeitpunkt unverzichtbar, dass die Berechungsmethode für den Anwender offen gelegt wird, damit dieser die erhobenen Daten im Kontext mit der Analysemethode interpretieren kann. Dies ist leider nicht bei allen auf dem Markt befindlichen Geräten gegeben und eine gute Portion Vorsicht und ständige Kritikbereitschaft sollte bei deren Anwendung bestehen bleiben.

Literatur:

  • 1 Prys-Roberts C. Anaesthesia: a practical or impractical construct?.  British Journal of Anaesthesia. 1987;  59 1341-1345
  • 2 Detsch O, Kochs E. Bedeutet Anästhesie immer auch Analgesie?.  Schweizerische Rundschau für Medizin Praxis. 1997;  86 1453-1459
  • 3 Antognini J F, Schwartz K. Exaggerated anesthetic requirements in the preferentially anesthetized brain.  Anesthesiology. 1993;  79 1244-1249
  • 4 Rampil I J. Anesthetic potency is not altered after hypothermic spinal cord transection in rats.  Anesthesiology. 1994;  80 606-610
  • 5 Berger H. Über das Elektroenzephalogramm des Menschen.  Archiv für Psychiatrie. 1931;  94 16-60
  • 6 Thornton C, Sharpe R M. Evoked responses in anaesthesia.  British Journal of Anaesthesia. 1998;  81 771-781
  • 7 Stockmanns G, Nahm W, Petersen J. et al . Wavelet-Analyse akustisch evozierter Potentiale während wiederholter Propofol-Sedierung.  Biomedizinische Technik. 1997;  42S 373-374
  • 8 Kurita T, Doi M, Katoh T. et al . Auditory evoked potential index predicts the depth of sedation and movement in response to skin incision during sevoflurane anesthesia.  Anesthesiology. 2001;  95 364-370
  • 9 Sandin R H, Enlund G, Samuelsson P. et al . Awareness during anaesthesia: a prospective case study.  Lancet. 2000;  355 707-711
  • 10 Gajraj R J, Doi M, Mantzaridis H. et al . Analysis of the EEG bispectrum, auditory evoked potentials and the EEG power spectrum during repeated transitions from consciousness to unconsciousness.  British Journal of Anaesthesia. 1998;  80 46-52
  • 11 Sleigh J W, Donovan J. Comparison of bispectral index, 95 % spectral edge frequency and approximate entropy of the EEG, with changes in heart rate variability during induction of general anaesthesia.  British Journal of Anaesthesia. 1999;  82 666-671
  • 12 Drummond J C. Monitoring depth of anesthesia: with emphasis on the application of the bispectral index and the middle latency auditory evoked response to the prevention of recall.  Anesthesiology. 2000;  93 876-882
  • 13 Gajraj R J, Doi M, Mantzaridis H. et al . Comparison of bispectral EEG analysis and auditory evoked potentials for monitoring depth of anaesthesia during propofol anaesthesia.  British Journal of Anaesthesia. 1999;  82 672-678

Prof. Dr. E. Kochs

Klinik für Anaesthesiologie, Technische Universität München, Klinikum rechts der Isar

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