Erfahrungsheilkunde 2001; 50(10): 586-587
DOI: 10.1055/s-2001-18113
Chronik

Karl F. Haug Verlag, in: MVH Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co. KG

Erfahrungsheilkunde - was steht hinter dem Wort?

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Publication Date:
30 October 2001 (online)

Der Begriff „Erfahrungsheilkunde”findet sich bereits im „Corpus hippocraticum”, einer vorhippokratischen Schrift. Dort heißt es:

„Die Heilkunst hat als Erfahrungskunst sichere Grundlagen von alters her. Der Anfang ist gefunden und auch der Weg, auf dem so viele glückliche Funde in langer Zeit gemacht worden sind und auch das übrige gefunden werden wird.”

Niemand anderes als Hahnemann hat im Jahre 1805 in seinem Aufsatz „Heilkunde der Erfahrung” diesen Gedanken aufgegriffen. In seiner Einleitung definierte er die Erfahrungsheilkunde so:

„DIE HEILKUNDE IST EINE WISSENSCHAFT DER ERFAHRUNG; sie beschäftigt sich mit Tilgung der Krankheiten durch Hilfsmittel. Die Kenntnis der Krankheiten, die Kenntnis der Hilfsmittel und die Kenntnis ihrer Anwendung bilden die Heilkunde.”

Fast zeitgleich mit Hahnemann veröffentlichte Rademacher sein Lebenswerk „Rechtfertigung der … verstandesgerechten Erfahrungsheillehre”. Er schrieb darin die bemerkenswerten Zeilen:

„Wozu nützt eigentlich der Arzt, wenn er Krankheiten nicht balder heilt, als die Natur, oder wenn er sie gar so phantastisch behandelt, dass die Natur genötigt ist, gleichzeitig Arzt und Krankheit zu bekämpfen?”

Es ist kein Zufall, dass die heutige Situation Parallelen zur Zeit vor 200 Jahren aufweist. Rademacher erregte damals großes Aufsehen. Es bildete sich ohne sein eigenes Dazutun eine eigene Schule von Ärzten mit einer eigenen Zeitschrift. Diese Schule verschmolz später mit der Homöopathie.

Kein geringerer als Virchow stellte sich von Anfang an positiv hinter den empirischen Grundgedanken Rademachers, während er Auswüchse unter dessen Schülern ebenso radikal bekämpfte. Über Rademacher schrieb Virchow im Leitartikel des 2. Bandes seines Archivs:

„Ich gestehe offen, dass ich in dem Werk von Rademacher den Anfang einer Reform sehe, welche damit endigen wird, den empirischen Standpunkt in der Therapie gegen den bisherigen rationellen oder physiologischen einzutauschen. Erst von diesem Augenblicke an wird die Therapie anfangen, sich nach Art einer Naturwissenschaft zu entwickeln, denn alle Naturwissenschaft beginnt mit der empirischen Beobachtung.”

Der Leitartikel Virchows hatte die Überschrift „Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie”. Er wurde 1849 veröffentlicht.

Vor diesem Hintergrund fand sich erstmals im Jahre 1951 in Plochingen auf Initiative des Verlegers Karl Friedrich Haug eine größere Anzahl „zorniger junger Männer”, wie Hilmar Deichmann sie später beschrieb, zusammen, um ihre Erfahrungenauszutauschen und sich gegenseitig in der Not der Nachkriegszeit zum Wohle ihrer Patienten mit Rat und Tat zu helfen. Sie und Generationen tausender Vortragender und Kursleiter der Veranstaltungen der Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde haben dazu beigetragen, dass der „Weg frei wurde” um über

Erfahrung und Wissen zur Erfahrungsheilkunde

zu gelangen - wie der erste Schriftleiter dieser Zeitschrift, Dr. med. Will Rink, es formuliert hat.

Noch im selben Jahr gab der Ulmer Verleger Karl Friedrich Haug die1. Ausgabe der Zeitschrift „Erfahrungsheilkunde” heraus(siehe die [Abbildung] der 1. Umschlagseite mit der damaligen Titelgestaltung). Zum Geleitwort formulierte Will Rink einige überaus bemerkenswerte Sätze, die auch heute noch Gültigkeit haben und eine unverändert bestehende Rechtfertigung für die Existenz und Arbeit der Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde e.V. sind:

Alle wissenschaftliche Forschung, insbesondere die medizinische, beruht zunächst auf Erfahrung. In einem ursprünglich wirklich „landläufigen” Sinne ist dieses Sammeln von Er-Fahrungen ganz wörtlich zu nehmen: indem man landauf und landab fährt, „erfährt” man sich jenes Wissen, das die Sinne unterwegs von Welt und Dingen zusammentragen. So war es bei Paracelsus und seinen ruhelosen Wanderungen im „Licht der Natur”, so war es auch noch bei Hahnemann, als er von Ort zu Ort gehetzt wurde und dabei das Wagnis des Wissens um die geheimen Kräfte der Schöpfung unternahm. Denn auch diese Bedeutung eines gefährlichen Wagens klingt im Begriff der Erfahrung mit. Der wissenschaftliche Terminus für Erfahrung heißt Empirie,und das griechische Wort peira meint, dem lateinischen periculum genau entsprechend, nicht nur Kunde, Versuch und Probe, sondern auch die mit solchem Vor-Gehen verbundene Gefahr rastlosen Versuchens und ewiger Versuchung.

So deutet die tiefe Hintergründigkeit sprachlicher Verwurzelung schon die möglichen Irrwege aller rein empirischen Methoden an: die Entartung zu einer ziellosen Experimentierkunst einerseits und die Erstarrung lebendigen Erfahrens zu erprobten Standpunkten andererseits. Beide Wege ist auch die medizinische Forschung nur allzu gründlich gegangen; der erste hat sie in die tote Wüste eines seelenlosen mechanistischen Materialismus geführt, dessen erst heute erkannte Ausweglosigkeit sie gegenwärtig zu Umkehr und prinzipiellem Umdenken nötigt, der andere aber zu einer gewissen dogmatischen Überheblichkeit und Gesichtsfeldeinengung verleitet gegenüber dem großen Gebiet, das man in wohlbedachter (gleichwohl aber bedenkenloser) Gegensätzlichkeit zur sogenannten „exakten” Wissenschaft als bloße „Erfahrungsheilkunde” zu bezeichnen pflegte.

Diese Kontaktlosigkeit der Schulmedizin zum eigenen fruchtbaren Mutterboden natursichtiger Erfahrung zu beseitigen und damit gleichzeitig die alten und neuen Sondermethoden einer echten Erfahrungsheilkunde aus ihrer unverdienten, aber immerhin hemmenden und einengenden Isolierung zu befreien, - das ist unsere Aufgabe.

Die andere, nicht minder wichtige Aufgabe besteht in der Schaffung einer wissenschaftlich tragfähigen und tragbaren Theorie für die einzelnen Zweige der Erfahrungsheilkunde mit dem Ziel einer kritischen Ordnungsschau im Rahmen der Gesamtmedizin.

Beide Aufgaben ergänzen und fördern sich gegenseitig. Das sorgsame Bemühtsein um ausreichende heuristische Arbeitshypothesen, die ja in der Erfahrungsheilkunde leider noch weithin fehlen, wird den Kontakt zur Schule und ihr Verständnis für viele vorläufig unerklärbare „Unmöglichkeiten” erfahrenen Lebens erleichtern. Andererseits müssen Theorie und Synthese, wollen Sie Vor-Urteile wirklich vermeiden und nicht der Sterilität scholastisch fixierter Thesen anheimfallen, sich immer und überall an allem nur irgendwie Erfahrbaren orientieren. Und gerade die Erfahrungen im Unbekannten tragen Keim und Samen der Zukunft in sich!”

Will Rink hat mit diesen Sätzen unbeabsichtigt die fünfzehn Jahre später in der Satzung niedergelegten Ziele der Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde e.V. vorweggenommen.

Der langjährige Vorsitzende des Tagungsausschusses der Medizinischen Woche Baden-Baden und Weiterbildungsbeauftragte der späteren Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde, Dr. Wolfgang Gedeon, sagt:

Wenn die sogenannte Schulmedizin alle medizinischen Probleme lösen könnte, bedürfte es keiner Erfahrungsmedizin bzw.Erfahrungsheilkunde. Nachdem dies aber offensichtlich nicht der Fall ist, sind diese Verfahren, um es mit Kant auszudrücken, ein Gebot der praktischen Vernunft. Ein Arzt, der sich nur auf durch klinische Studien schulmedizinisch abgesicherte Methoden beschränken und auf erfahrungsheilkundliches Vorgehen völlig verzichten will, macht sich handlungsunfähig.

Naturheilverfahren sind von Ärzten und teilweise auch Laien praktizierte Verfahren, die in besonderer Weise den Selbstheilungskräften im Organismus vertrauen. Aus naturheilkundlicher Sicht stellt die Erfahrungsheilkunde mehr als eine additive Ergänzung der klinischen Medizin dar. Sie kann ein reformatorischer und innovativer Gesamtimpuls für die in die Krise geratene Gesamtmedizin sein.

Erfahrungsheilkunde ist nicht vorwissenschaftlich oder unwissenschaftlich, wie manche Leute immer wieder unterstellen. Vielmehr sieht sie es als ihre Aufgabe an, durch Erfahrungsaustausch das Wissen der einzelnen Ärzte zu verallgemeinern und zu systematisieren. Ihre gegenüber der klinischen Methodologie wesentlich grössere Flexibilität, gestattet es ihr, auf die Probleme der Praxis lebensnäher einzugehen. Von daher ist sie zumindest in der allgemeinmedizinischen Praxis als Grundlagenmethodik zu postulieren.

Dr. Franz Vida, das unvergessene langjährige Vorstandsmitglied der späteren Ärztegesellschaft, hat eine zeitgerechte, moderne Definition des Begriffes „Erfahrungsheilkunde” hinterlassen:

„Erfahrungsheilkunde ist ein Sammelbegriff für diagnostische und therapeutische Methoden, die durch den unmittelbaren Kontakt mit dem kranken Menschen entstanden sind und für die praktische Ausübung der ärztlichen Heilkunst unentbehrlich wurden. Sie zeichnen sich durch pragmatische, sichere und überragende Therapieerfolge aus und sind beim Geübten risikolos.”