Suchttherapie 2001; 2: 28-31
DOI: 10.1055/s-2001-18404
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Suchttherapie und kontrollierter Konsum von Opiaten und Kokain/Crack

Addiction therapy and the controlled consumption of opiates/heroin and cocaine/crackSebastian Scheerer
  • 1Institut für Kriminologische Sozialforschung, Universität Hamburg
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Publication Date:
12 November 2001 (online)

Zusammenfassung

Die Suchtmedizin erforscht die Sucht und deshalb eben gerade nicht diejenigen, die trotz Drogengebrauchs von der Sucht verschont bleiben. Eine intensivere Erforschung des kontrollierten Konsums von bekannten Suchtdrogen wie z. B. Heroin und Kokain stößt vor allem deshalb auf Widerstände, weil davon ein falsches Signal - eine Verharmlosung der Drogen und die Botschaft, dass man sie ruhig und ohne Angst vor dem Süchtigwerden konsumieren könne - befürchtet wird. Dieser Sichtweise ist jedoch nachdrücklich zu widersprechen. Zwar ehrt es die Suchtmedizin, dass es ihr um die Hilfsbedürftigen geht: um die schwangeren Konsumentinnen, die HIV-Infizierten, die schwerstkranken und völlig verelendeten Süchtigen. Gerade die Erforschung der Bedingungen, die Menschen dazu verhelfen, Suchtdrogen kontrolliert zu sich zu nehmen, kann jedoch mehr zur Neuorientierung und Effizienzsteigerung von Vorbeugung und Heilung beitragen als die Fortschreibung konventioneller Forschungsprogramme.

Addiction therapy and the controlled consumption of opiates/heroin and cocaine/crack

Quite naturally addiction sciences are more interested in the causes and treatments of addiction than in the conditions and extent of a possible controlled use of addictive substances. This article argues that a closer look at extent and quality of controlled consumption can produce useful insights for therapeutic and more general (deontic) responses to the drug problem, e. g. drug legislation.

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1 Zitiert nach [1]; Wie diese verdinglichende und dämonisierende Sichtweise, die den Substanzen selbst eine übermenschliche Kraft zuschreibt, noch heute gelegentlich weiterwirkt, zeigt sich bei genauerer Betrachtung bekannter Buchtitel, in denen von der „Weltmacht Droge” die Rede ist oder von so gewohnten Slogans wie „Keine Macht den Drogen” ...

2 Der Aussage: „Du kannst Heroin gelegentlich nehmen, ohne jemals süchtig zu werden” widersprachen Anfang der 70er Jahre 90% der Amerikaner; vgl. [2] (S. 1218: „ ... Literatur zeigt, dass sich buchstäblich Hunderte von Studien mit dem einen oder anderen Aspekt der Abhängigkeit befassen, jedoch nur weniger als ein Dutzend in der Hauptsache von gelegentlichem Heroingenuss handeln. - Selbst als die Existenz nichtabhängigen Heroingebrauchs anerkannt war, wurde seine Bedeutung durch die Feststellung heruntergespielt, dass es sich nur um ein kurzes Übergangsstadium zwischen experimentellem Genuss und Abhängigkeit handele ...”).

3 Vgl. [4, 5]; da nicht alle „Rauschgifte” berauschen und auch nicht alle „Betäubungsmittel” betäuben, ihre Gemeinsamkeit vielmehr in Sucht und Zerstörung bestehe, solle man sie besser „Suchtgifte” nennen, meinte denn auch Otto Zekert [6].

4 Unter den illegalen Drogen kommt in den USA Kokain und Crack noch das höchste Missbrauchspotenzial zu, die eine Missbrauchsrate von 10-25 % aufweisen. Praktisch werden alle anderen Drogen von 90% der Konsumenten nicht miss-, sondern gebraucht. Vgl. [13-16].

5 „Although this feedback model is circular, it is not a closed and independent circuit. The three cornerstones of the feedback model are each the result of distinctive variables and processes. Drug availability is determined by price, purity and accessibility, which are mediated by market factors and governmental regulations … Rituals and rules are the product of culturally defined social learning processes … The shape and degree of life structure are the product of the regular activities, relationships and ambitions which may be drug related or not. General socio-economic factors and actual living conditions, personality structure and the prevalence of (non drug related) psycho-social problems, and cultural factors may further determine life structure … Clearly, external stimuli can impact on the feedback system, in particular on its ability to support controlled and adjust uncontrolled use ... The social definition of drugs and their users, embodied in drug policy, can be seen to affect the model at all three cornerstones. - Rituals and rules determine and constrain the patterns of drug use, preventing an erosion of life structure. A high degree of life structure enables the user to maintain a stable drug availability, which is essential for the formation and maintenance of efficient rules and rituals. Self-regulation of drug consumption and its (unintended) effects is thus a matter of a precarious) balance of a circularly reinforcement chain …” . Vgl. jüngst auch [18]. Decortes Ergebnisse von Tiefeninterviews mit 111 erfahrenen Kokaingebrauchern in Antwerpen bestätigen Ergebnisse von Untersuchungen in Amsterdam, Rotterdam, Barcelona, Frankfurt a.M., Turin, San Francisco, Toronto, Schottland und Australien.

6 So zeigt etwa eine 1996 in Norddeutschland durchgeführte Explorationsstudie [19], dass knapp 40% der in Diskotheken, Raver-Clubs und ähnlichen Orten befragten 669 Personen angeben, Ecstasy zu konsumieren, jedoch von diesen nur 9% häufiger als einmal wöchentlich, hingegen 56% seltener als wöchentlich. Befragt nach ihren Konsummotiven und subjektiven Drogenerwartungen gaben rd. 54% an, es gehe ihnen vorrangig um ein „gutes Feeling”, knapp 30% sagten, sie könnten mittels Designerdrogen besser „durchtanzen/durchmachen”; für gut 19% stehen „Harmonie/Spaß/Feiern mit anderen im Vordergrund”. Demgegenüber begründen die Nicht-Konsumenten ihren Konsumverzicht zu gut zwei Drittel mit befürchteten „unerwünschten Nebenwirkungen” (26,0%) bzw. „Schädigungen/Gefahren” (41,8%).

7 So ist z.B. der Kokainkonsum im „bürgerlichen Milieu” keineswegs ein Protestsymbol; er dient auch nicht der Bewusstseinserweiterung oder der unbewussten Selbstmedikation; er ist integrierter Bestandteil der Konsumkultur, weil auch die Drogenkonsumenten vor allem einfach Spaß, Unterhaltung, Erlebnisse suchen und der Drogenkonsum der Gebrauch einer Ware zur Steigerung des Lebensgenusses ist. Vgl. [22]: „ ... es ist alles unheimlich grenzenlos möglich.” [23].

8 Riskant ist der Drogengebrauch nicht zuletzt künstlich - nämlich deswegen, weil er verboten ist. Die Drogen unterliegen keiner Lebensmittelkontrolle. Mit einer Legalisierung würde die Kontrolle über Qualität und Wirkstoffkonzentrat überhaupt erst einsetzen. Auch werden die prohibitionsbedingten Extra-Gefahren, die sich aus der Notwendigkeit des Schmuggels und der Vermeidung von Entdeckung ergeben und die sich auf die Konzentration des Wirkstoffs ebenso risikoerhöhend auswirken wie auf die sozialen und hygienischen Bedingungen des Konsums und die Möglichkeiten einer rituellen Risikominderung, einer Verlagerung des Konsums von hochkonzentrierten Darreichungsformen auf wirkstoffärmere Angebote weichen. Zu einer Drogenkultur, die den Namen verdient, vgl. [24]; diese und weitere Aufsätze finden sich auch in [25].

Prof. Dr. Sebastian Scheerer

Institut für Kriminologische Sozialforschung
Universität Hamburg

Troplowitzstraße 7

22529 Hamburg

Email: scheerer@uni-hamburg.de

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