Dtsch Med Wochenschr 2001; 126(46): 1303-1304
DOI: 10.1055/s-2001-18468
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die aktive Sterbehilfe als gesellschaftliche Herausforderung

Euthanasia: a challenge to society
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Publication Date:
15 November 2001 (online)

Priv.-Doz. Dr. med. Giovanni Maio, Freiburg

Das neue Sterbehilfegesetz in den Niederlanden hat auch hierzulande zu einer erneuten Diskussion über die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe geführt. Viele Ärzte werden seit langem schon in ihrem klinisch-praktischen Alltag immer wieder mit der Bitte von Patienten nach aktiver Sterbehilfe konfrontiert. Umfragen belegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die aktive Sterbehilfe befürwortet, während die meisten Ärzte sie ablehnen. Was ist zu tun?

Das Problem kann sicher nicht dadurch gelöst werden, dass man die aktive Sterbehilfe einfach zum Tabu erklärt, denn viele Patienten würden sich dadurch in ihren Belangen nicht ernst genommen fühlen. Vielmehr bedarf es gerade in dieser Frage einer offenen und breiten Diskussion, damit Ärzte und auch Patienten besser verstehen können, warum es zu diesen unterschiedlichen Bewertungen der aktiven Sterbehilfe kommt. Gerade das niederländische Beispiel kann für eine solche Debatte hilfreich sein, weil die Niederlande uns eine Option konkret vor Augen führen, die uns helfen kann, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Doch um einen eigenen Standpunkt entwickeln zu können, muss man sich erst auf die Fakten einlassen, und diesem Ziel dient der Beitrag von Gordijn, der uns ohne jegliche Wertung einen Überblick über die Entstehungsgeschichte, Inhalt und Rezeption des niederländischen Gesetzes gibt. Dass es normativ auch auf hohem Differenzierungsniveau unterschiedliche Plädoyers geben kann, möchte die Pro & Contra-Darstellung in dieser Ausgabe verdeutlichen. Es melden sich zwei international renommierte Kliniker zu Wort, die beide das Problemfeld aus eigener Anschauung kennen und die beide eine internationale Anerkennung ihres Einsatzes für ein humanes Sterben erlangt haben. Auch die deutsche Diskussion um die aktive Sterbehilfe kann von einer solchen Gegenüberstellung profitieren, sie kann es aber nur, wenn jeder Argumentationsseite die Motivation des Ringens um das Gute zuerkannt wird. Um die verschiedenen Positionen in den Beiträgen dieser Ausgabe besser einordnen zu können, sei im Folgenden kursorisch eine Systematik der ethischen Pro- und Contra-Argumente dargelegt [4].

Aus der Sicht der Medizinethik lassen sich sowohl gegen als auch für die aktive Sterbehilfe gewichtige Argumente finden. Der Hinweis auf die Autonomie, auf das Selbstbestimmungsrecht des Kranken gilt als das zentrale Argument für die aktive Sterbehilfe. Die Autonomie ist letztlich begründet in dem Respekt vor der Freiheit des Menschen und in der Achtung seiner Würde, die jedem Menschen allein durch sein Menschsein zuteil wird. Den freien und vernünftigen Willen eines aufgeklärten Menschen zu missachten bedeutet letztlich, ihm den Respekt zu versagen, den er als Mensch verdient. So könnte es der Patient als Versagen von Respekt empfinden, wenn der Arzt ihm die aus seiner Sicht erlösende tödliche Handlung verweigert. Welche guten Gründe gäbe es, den Wunsch des Patienten nach aktiver Tötung für nicht beachtlich zu erklären? Ein klassisches Argument gegen die Verbindlichkeit des Sterbewunsches stammt bezeichnenderweise von Immanuel Kant selbst. Kant hat den Willen zur Selbsttötung als Widerspruch zum Autonomieprinzip bezeichnet, weil durch den Vollzug der Selbsttötung dem Subjekt die Grundlage seiner Autonomie entzogen werde. Ein solcher Wunsch wäre für Kant eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst, weil die Existenzerhaltung zwangsläufig Inhalt vernünftigen Wollens und jede Selbsttötung ein Verstoß gegen die Forderung der Selbstzwecklichkeit sei. Daher betrachtet Kant den Suizidwunsch nicht als Ausdruck einer allgemeinen Vernunft [3]. Ähnlich hat auch Thomas von Aquin in einer naturrechtlichen Argumentation den Suizidwunsch als einen Verstoss gegen das natürliche Wollen beschrieben. Doch in einer auf Selbstbestimmung pochenden Gesellschaft wie der unsrigen sind diese klassischen tiefen Weisheiten nicht konsensfähig. So gibt es auch andere Denker, die es genau andersherum sehen. Jean Améry ist wohl das prominenteste Beispiel einer gegenteiligen Position, die gerade im Freitod den letzten Ausdruck von Freiheit sieht [1].

Könnte man den Selbstmord unter bestimmten Bedingungen noch als Freiheitsakt begreifen, so ist dies für die Fremdtötung im Sinne der aktiven Sterbehilfe nicht ohne weiteres möglich. So lautet ein zweites Argument, dass die aktive Sterbehilfe kein Akt der Selbstbestimmung sein kann, denn in jeder Fremdtötung ist ein Stück Heteronomie enthalten. Gerade im Vollzug der Tötung ist die Fremdbestimmung inhärent. Diese lässt sich nicht vermeiden, da der Patient nicht selbst Handlungsträger ist und unweigerlich im Tötungsakt zum Objekt gemacht wird [2] . Daher erscheint es vielen zu kurzsichtig, in der aktiven Sterbehilfe einen Dienst am Autonomieprinzip festmachen zu wollen.

Eine dritte Argumentation verweist auf die Möglichkeit, dass der Wille des Patienten zur Tötung durch den Arzt gar nicht authentisch sein könnte und von daher nicht als Ausdruck von Autonomie gewertet werden dürfe. Hier gibt es drei Argumentationsstränge: a) der Sterbewunsch ist vermeidbar durch die Veränderung äußerer Rahmenbedingungen des Sterbens, b) der Sterbewunsch ist nur provisorisch oder reaktiv und damit revidierbar und c) der Sterbewunsch ist fremdbestimmt und nicht Ausdruck freier Willensentscheidung. Diese Argumentationsstränge machen deutlich, dass die eigentliche gesellschaftliche Herausforderung, die sich aus der Diskussion um die aktive Sterbehilfe ergibt, darin besteht, die Bedingungen des Sterbens so zu optimieren, dass der Wunsch nach Sterbehilfe in den allermeisten Fällen erst gar nicht aufkommt.

Eine vierte Argumentation geht nun nicht mehr vom Patienten aus, sondern von der Handlung als solcher. Die Argumentation lautet, dass jede aktive Tötung in sich unmoralisch ist und dass keine Willensäußerung und kein Umstand an dieser grundsätzlichen Verwerflichkeit des Tötens etwas ändern könnte. Intuitiv erscheint dies plausibel, aber es muss hierbei bedacht werden, dass es durchaus legitime Ausnahmen vom Tötungsverbot gibt, wozu unter anderem die Notwehr zählt. So ist es grundsätzlich schwierig, eine Handlung allein aus sich selbst heraus für gut oder schlecht zu erklären. Moralisch und unmoralisch sind Prädikate und keine Eigenschaften, die mit einer Handlung immanent verknüpft sind. Die Frage müsste also vielmehr lauten: kann es überhaupt eine Situation geben, die es rechtfertigen würde, in diesem speziellen Falle das Tötungsverbot aufzuheben?

Gegen die Relativierung des Tötungsverbots wird eine fünfte Argumentation vorgebracht, die in einer konsequentialistischen Begründung darauf abhebt, dass die Erfüllung eines solchen Willens weitreichende negative soziale Folgen hätte, sei es für die Ärzte, deren Berufsstand in Miskredit geriete, sei es für die Gesellschaft, die ein Interesse daran hat, dass das Vertrauen in das Gesundheitssystem erhalten bleibe, sei es für die zukünftigen Patienten, die sich einem sozialen Druck ausgesetzt fühlen könnten, die aktive Sterbehilfe nicht nur als Ultima ratio zu erbitten. In diesen Duktus der Argumentation fällt auch der Verweis auf die verschiedenen Dammbruchgefahren. Hierzu gehört vor allem die Gefahr, dass durch eine etwaige rechtliche Zulassung der aktiven Sterbehilfe die anfängliche Begrenzung auf einwilligungsfähige Patienten sukzessive aufgeweicht werden könnte bis hin zur Tötung älterer oder behinderter Menschen ohne deren Einwilligung. Ob eine solche Gefahr tatsächlich einträte und ob sie auch nicht zu bannen wäre, bleibt Spekulation.

Eine sechste Argumentation hebt auf den Konflikt zwischen Erfüllung des Patientenwillens und Respektierung der Autonomie des Arztes ab, denn es besteht Konsens darüber, dass kein Arzt zum Instrument des Patientenwillens gemacht werden dürfe. Genau dies könnte aber im Falle einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eintreten, weil eine solche Legalisierung dem Patienten suggerieren könnte, er habe ein Anrecht auf aktive Sterbehilfe, dies umso mehr als die Vehemenz der aktuellen Sterbehilfediskussion nicht zuletzt auf die Patientenrechtsbewegungen zurückzuführen ist. Eine staatlich unterstützte aktive Sterbehilfe könnte mit einer allmählichen aber gravierenden Umdefinierung der Arztrolle einhergehen. Der Arzt könnte sehr schnell vom Helfer zum Gehilfen werden.

Ein siebtes Argument, den Sterbewillen für nicht beachtlich zu erachten, bezieht sich darauf, dass jede Fremdtötung durch den Arzt ein Lebenswerturteil über den Zustand des zu Tötenden impliziert. So kann der Arzt letztlich nur dann ärztlich tätig werden, wenn über den Willen des Kranken hinaus seine Handlung auch medizinisch indiziert ist oder wenn der Wunsch des Kranken allgemein nachvollziehbar ist. Wenn ein Arzt den Patienten tötet, so ist der symbolische Gehalt dieser Handlung nicht zu unterschätzen, weil die ärztliche Tötung stillschweigend als Signal verstanden werden kann, dass der Arzt die freie Entscheidung des Patienten mitträgt und dass ein solcher Zustand für sich genommen als eine Indikation für das ärztliche Töten betrachtet werden könnte, was unweigerlich mit einem Lebensqualitätsurteil verbunden ist.

Auf der anderen Seite aber steht der Einwand im Raum, dass gerade im Umgang mit den verschiedenen Formen des Therapieverzichts der Wille des Kranken standesrechtlich und gesetzlich eine immer stärkere Gewichtung erfahren hat. Es kann daher als kontraintuitiv und unlogisch erscheinen, diesen sonst so entscheidungsleitenden Willen des Kranken in Bezug auf die aktive Sterbehilfe für vollkommen unerheblich zu erklären. Dies umso mehr als für die passive Sterbehilfe schon ein mutmaßlicher Wille genügt und bei der in Frage kommenden aktiven Sterbehilfe eine ausdrückliche direkte Willensäußerung vorläge. Hinzu kommt, dass auch heute schon manche Patienten mit ärztlich verordneten Analgetika einen vorzeitigen Tod sterben. Vielen erscheint die Differenz zwischen der tolerierten, ja gar propagierten indirekten Sterbehilfe und der aktiven Sterbehilfe angesichts desselben performativen Tuns wenig plausibel, weil diese zwei äußerlich identischen Handlungen sich nur dadurch unterscheiden, dass der Tod im einen Fall direkt intendiert ist und im anderen Fall »nur« in Kauf genommen wird. Ähnlich schwierig ist es auch, den Therapieabbruch von der aktiven Sterbehilfe moralisch relevant zu unterscheiden, vor allem dann, wenn auch der Therapieabbruch direkt zum Tode führt. Daher wird die Unterscheidung von guter »passiver« Sterbehilfe und problematischer aktiver Sterbehilfe in dieser polarisierten Form von vielen in Frage gestellt.

Diese ethische Systematik sollte aufzeigen, dass sich sowohl das Plädoyer gegen die aktive Sterbehilfe als auch das Plädoyer dafür auf gute Argumente stützen kann. Niethammer und Kimsma werden in ihrer differenzierten Darlegung die Diskussion um eine Reihe zentraler Gesichtspunkte bereichern. Daher sei den Autoren gedankt, die sich dieser anspruchsvollen Aufgabe gestellt haben. Der Dank gilt auch den Lesern, die ihnen die wohlwollende Aufgeschlossenheit zukommen lassen, die beide Autoren in ihrem anerkannten Engagement für eine humane Medizin zu Recht reklamieren können. Wenn der Leser diese positive Motivation auf beiden Seiten bedenkt, so wird er - ganz gleich auf welcher Seite er steht - erkennen, dass er durch genaues Hinhören mehr lernen kann als durch vorschnelles Abtun.

Literatur

  • 1 Améry J. Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart 1976
  • 2 Beckmann J P. Suizidassistenz in philosophisch-ethischer Sicht. In: Ritzel, G. (Hrsg.) Beihilfe zum Suizid. Ein Weg im Streit um Sterbehilfe Regensburg 1998: 16-29
  • 3 Kant I. Die Metaphysik der Sitten. (Kapitel »Von der Selbstentleibung«). Werkausgabe von Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1991: 554-555
  • 4 Maio G. Wie lässt sich der Therapieverzicht ethisch begründen?.  Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 2001;  36 282-289

Priv.-Doz. Dr. med. Giovanni Maio

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