Z Sex Forsch 2001; 14(3): 226-246
DOI: 10.1055/s-2001-18542
ORIGINALARBEIT

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Die restlose Beherrschung dieser Materie”

Beziehungen zwischen Zwangssterilisation und gynäkologischer Sterilitätsforschung im Nationalsozialismus[1] “The Total Mastery Of This Subject”Relationship Between Compulsory Sterilisation and Gynaecological Sterility Research in National SocialismGabriele  Czarnowski
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Publication Date:
19 November 2001 (online)

Übersicht: Die Autorin geht in ihrem Aufsatz dem Verhältnis von Zwangssterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und gynäkologischer Sterilitätsforschung nach. Dabei kann sie zeigen, dass die Zwangssterilisationen von der Universitätsgynäkologie sowohl als berufliche Pflichterfüllung und Dienstleistung für „Volk und Staat” als auch als willkommene Möglichkeit gesehen wurden, die Sterilitätsforschung voranzutreiben. Die monströse Selbstverständlichkeit, mit der die Gynäkologen die an den Opfern der Zwangssterilisation gemachten Erfahrungen in einen Fortschritt der Sterilitätsforschung umgebogen haben, zeigt die Autorin am Beispiel des Direktors der Universitätsfrauenklinik Königsberg Felix v. Mikulicz-Radecki auf.

1 Nach einem Vortrag, gehalten auf der 20. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 6. bis 8. Oktober 2000 in Frankfurt am Main

Literatur

1 Nach einem Vortrag, gehalten auf der 20. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 6. bis 8. Oktober 2000 in Frankfurt am Main

2 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAB), 30.01/10161

3 Archiwum Glownej Komisji Badania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, Warszawa, RMdI Sygn 6. Abel verwertete seine Tätigkeit als Rassengutachter auch wissenschaftlich (Abel 1937; vgl. u. a. Pross und Aly 1989: 196 f; Müller-Hill 1984).

4 Ehegesundheitszeugnis vgl. Czarnowski (1997; 1991: 175 ff). Ab 1941 musste jedes Brautpaar zur Eheschließung eine so genannte Eheunbedenklichkeitsbescheinigung des Gesundheitsamts vorlegen.

5 Staatsarchiv Poznan, Erbgesundheitsgericht-Posen, Sygn 14. Zu dieser Zeit war Elli N. vermutlich im neunten Monat. Mehr ist in der Akte nicht überliefert.

6 Diese und alle folgenden Zahlen beruhen auf Berechnungen und Schätzungen im Standardwerk zu diesem Thema von Gisela Bock (1986).

7 Vgl. hierzu neben Bock 1986 u. ;a. Bergmann 1998; Grossmann 1995; Usborne 1994; Weindling 1993; Weingart et al. 1988

8 Felix v. Mikulicz-Radecki war Sohn des berühmten Breslauer Chirurgen Johannes v. Mikulicz-Radecki und von 1932 bis 1945 in Klinikchef in Königsberg (vgl. Fischer 1962: 1043; zur Familiengeschichte vgl. Henriette v. Mikulicz-Radecki 1988). Sein Vortrag wurde in der Schriftenreihe der Königsberger Gelehrten Gesellschaft mit einem Anhang von 16 Abbildungen (vermutlich während des Vortrags gezeigte Dias) veröffentlicht, in der zeitgenössischen Fachpresse zustimmend rezensiert (z. B. Bluhm 1937) und von ihm bis an sein Lebensende in den 60er Jahren nicht versteckt (vgl. Kürschners Gelehrtenkalender 1966: 1619).

9 Demgegenüber hatte der Breslauer Klinikchef Ludwig Fraenkel auf dem Gynäkologenkongress 1931 in seinem Referat „Sterilisierung und Konzeptionsverhütung” noch betont: „Die Sterilisierung Schwachsinniger gehört mit zu den Operationen aus eugenischer Indikation. Man kann mit ihr nicht vorsichtig genug sein. Der Geistesschwache hat ein ganz besonderes Anrecht auf Rechtsschutz. […] Eine Ablehnung der Sterilisierung durch die Schwachsinnige wird selbst dann erheblich sein, wenn der Grad des Schwachsinns ein sehr hoher ist” (Fraenkel 1932: 111). Fraenkel fiel 1933 der Selbstgleichschaltung seiner nichtjüdischen Kollegen in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie zum Opfer und wurde durch den Druck der Studentenschaft von der Universität vertrieben (vgl. Simmer 1986: 205; Kröner 1989: 9).

10 Er war seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP und gehörte auch der SA an (Berlin Document Center [BAB], file Felix v. Mikulicz-Radecki).

11 Karl Heinrich Bauer war Leiter der Chirurgischen Universitätsklinik in Breslau und wurde 1945 Rektor der Universität Heidelberg (vgl. zu ihm Laufs 1990: 237 - 241).

12 Darauf hatte auf dem Gynäkologenkongress 1933 der katholische Görlitzer Klinikchef und Sozialgynäkologe Albert Niedermeyer als einziger sich berufsöffentlich äußernder Sterilisationsgegner noch hingewiesen. Und August Mayer, Direktor der Universitätsfrauenklinik Tübingen und Sterilisationsbefürworter, hatte im selben Jahr in zunächst zur Veröffentlichung geplanten, dann aber dem Reichsinnenministerium vorgelegten und nicht zurückerhaltenen „Bemerkungen zur eugenischen Sterilisierung” u. a. gefragt: „Wie und von wem wird der Zwang nötigenfalls ausgeübt? Dürfen Schwestern oder Ärzte, die sich innerlich dazu nicht berechtigt glauben (etwa aus Furcht vor einer Lebensgefahr durch einen ’Narkoseüberfall‘) ihre Mithilfe verweigern? Wer springt nötigenfalls für sie ein?” (BAB, 30.01/26244, Bl. 305)

13 Vgl. die Operationsberichte in F. v. Mikulicz-Radecki 1937 und Horn 1936

14 Vgl. hierzu Bock 1986: 378; zu der Katastrophe der Zwangsoperation und der Inkaufnahme von Todesfällen vgl. ebd.: 372 ff.

15 In diesem Aufsatz korrigierte er übrigens seine in der „Praxis” noch vertretene Auffassung über bestimmte Eileiterverwachsungen als Zeichen sicherer Sterilität und erweiterte so das „Muss” für den Eingriff.

16 Vermutlich flossen auch persönliche, soziale und geschlechtsspezifische Werturteile in das klinische Arzt-Patientinnen-Verhältnis ein und bestimmten die Haltung der Operateure in derselben Weise, wie es Gisela Bock für die „Erbgesundheitsrichter” analysiert hat.

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