Balint Journal 2001; 2(4): 116-117
DOI: 10.1055/s-2001-18623
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Einige Fragen zur Balint-Gruppenleitung (Oder wie viele „Regeln“ verträgt die Balint-Arbeit?)

Bern Carrière
  • Lübeck
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. November 2001 (online)

In den Seminaren zur Balint-Gruppenleitung üben die Teilnehmer (weibliche immer eingeschlossen) - oft zum ersten Mal - die Leitung einer Balint-Gruppe, deren Ablauf anschließend diskutiert wird.

Dabei fiel mir auf, dass die angehenden Leiter verschiedene „Regeln“ anwandten, die sie bei ihren bisherigen Gruppen oder auf Balint-Tagungen gesehen und für sich übernommen hatten: Hatte ein Referent eine Begegnung mit einem Patienten berichtet, dann bat der Gruppenleiter den Referenten, sich zurückzulehnen und sich aus dem folgenden Gruppengeschehen herauszuhalten.

In der Diskussion war meine Frage immer: „Warum lassen Sie die Teilnehmer nicht sofort ihre bei dem Bericht des Referenten aufgetauchten Empfindungen, Gedanken und Fantasien äußern?“

Was durch die Bitte des Gruppenleiters bewirkt wurde, zeigt noch deutlicher die nächste Intervention:

Es folgte die Aufforderung des Gruppenleiters, noch „Verständnisfragen“ an den Referenten zu stellen. Dies ist wieder eine Unterbrechung des Gruppenprozesses und verhindert erneut die unmittelbare Äußerung der aufgetauchten Gedanken und Gefühle. Wir wollen doch das „Spontan-Lebendige“ (Trenkel) in der Balint-Arbeit fördern und erhalten, und die während der Vorstellung einer Patienten-Begegnung angestoßenen Reaktionen gehören hierher.

Eine Teilnehmerin in der Diskussion: „Wenn Sie das so sagen, fällt mir ein, dass ich sofort nach dem Bericht über den letzten Fall etwas sagen wollte, aber dann kamen die Verständnisfragen dazwischen und der Einfall war weg“. Das ist genau das, was ich meine. Man verspielt ein gutes Potenzial des Gruppenprozesses, wenn am Beginn der Gruppensitzung in dieser Weise eingegriffen wird. Es hat ja auch seine Bedeutung, wenn der Referent bestimmte Sachverhalte oder Umstände ausgelassen hat, über die mancher Teilnehmer gerne mehr wissen möchte. Wenn solche Fragen im Laufe der Gruppenarbeit gestellt werden, dann kann darauf eingegangen werden, z. B.: „Was bedeutet es für die Arzt-Patienten-Beziehung, dass dies nicht berichtet wurde oder gerade jetzt auftauchte?“

Und es sollen ja auch alle auftauchenden Gedanken und Gefühle ausgesprochen werden. Ob sie als „richtig“ oder falsch empfunden werden, sollte keine Rolle spielen.

Ähnlich steht es mit der Frage der Gruppenleiter an den Referenten, welches Problem er mit diesem Patienten habe. Natürlich können Patienten vorgestellt werden, mit denen die Referenten Probleme haben. Aber es muss nicht artikuliert werden, das ist keine Vorbedingung. Jede Begegnung mit einem Patienten kann ein „Balint-Fall“ sein - ob der Referent mit ihm ein Problem hat oder vielleicht (noch) gar keins sieht. Aber die Frage nach einem Problem unterbricht wieder den Beginn der Gruppenarbeit und steuert in die Richtung eines Fallseminars oder einer Supervision.

Ich übertreibe sicher, wenn ich den Eindruck hatte, dass einzelne der Referenten nach der Aufforderung, sich zurückzulehnen und sich herauszuhalten, dann wie erstarrt saßen und sich nicht mehr zu rühren wagten. Wie sehr sie dennoch am Verlauf der Gruppenarbeit teilgenommen hatten, zeigte sich, wenn sie am Ende der Gruppenarbeit wieder „hereingenommen“ wurden. Ich versuche, das „Einmischen“ der Referenten lockerer zu handhaben und nehme z. B. direkte Fragen der Teilnehmer an den Referenten, die im Laufe der Gruppenarbeit gestellt werden, auf und rege den Frager und die Gruppe an, sich Gedanken darüber zu machen, welche Bedeutung diese Erkundungen haben - sowohl für den Fragestellenden als auch für die Arzt-Patienten-Beziehung - und warum die Frage gerade jetzt gestellt wird. Manchmal lasse ich auch eine Antwort des Referenten zu.

Mir ist aufgefallen, dass in den Leiter-Gruppen oft schwer gestörte Patienten gebracht werden, die den angehenden Leitern einen erheblichen Schrecken einjagen. Die Teilnehmer an solchen Gruppen sind ja alle psychotherapeutisch ausgebildet und haben entsprechende Patienten. Manchmal erwarten die Referenten offenbar, dass die Gruppe Probleme lösen soll, die der jeweilige Therapeut und sein Supervisor nicht haben bewältigen können. Die Balint-Gruppe ist keine Supervisions-Gruppe. Die Balint-Arbeit kann sich aber auf die Arzt-Patienten-Beziehung konzentrieren in dem Sinne: „Was geht hier zwischen Patient und Arzt vor? Was macht der Patient mit seinem Therapeuten oder weitergehend mit der Gruppe?“ Und die Fantasien der Teilnehmer führen oft zu überraschenden Einsichten, weil die Balint-Gruppe eben anders arbeitet als der Therapeut mit seinem Supvervisor.

Abgesehen davon will die Balint-Arbeit auch keine therapeutischen Probleme lösen und wir können ruhig zugeben, wenn die Gruppe mit einer solchen Erwartung überfordert ist.

Der „Schrecken“ des jeweiligen Gruppenleiters kann ja auch direkt mit dem dargestellten Fall zu tun haben: das Drohende in dem Patienten.

Mehrfach hatten die Gruppenleiter Schwierigkeiten mit einem Schweigen der Gruppe umzugehen. Es gibt ja ganz verschiedene Gründe für ein solches Schweigen: starke Betroffenheit z. B. oder es sind viele Gedanken angestoßen worden, die in den Teilnehmern „brüten“, aber noch nicht ausgesprochen werden. Auch wenn nichts gesagt wird, tauchen Gefühle und Reflexionen auf. Der Gruppenleiter kann auf das Geschehen in der Gruppe eingehen oder auf das zurückgreifen, was das Schweigen ausgelöst hat - aber nicht zu rasch, um den Gruppenprozess nicht zu stören.

Fazit: Methodische Anweisungen oder „Regeln“ fördern die Balint-Arbeit nicht, sie stören eher und helfen auch nicht, eine Balint-Gruppe zu „steuern“ oder zu „bändigen“.

Ich hoffe, dass ich nicht in die Falle getappt bin, hier Regeln gegen Regeln aufzustellen.

Diskussionsbeitrag der Redaktion zur Frage von Herrn Carrière:

Wie viele Regeln verträgt die Balint-Arbeit?

Diese Frage nehmen wir mit Dank zum Anlass, eine Diskussion zu den ganz zentralen Fragen unserer praktischen Balint-Arbeit zu führen. Und wir möchten dazu ermuntern, eigene Stellungnahmen hierzu an die Redaktion zu schicken.

Der Balint-Gruppenleiter soll das „Spontan-Lebendige“ in der Balint-Arbeit sicher fördern und erhalten. Welchen Sinn kann es also haben, „Sachfragen“ anzustoßen und den Referenten danach „herauszunehmen“, so dass er sich in Ruhe anhört, was sein Bericht und die Beantwortung von Verständnisfragen bewirkt hat? Unterbricht dies wirklich die Spontanität? Ist es ein Zuviel an Regeln? Regeln geben ja auch Sicherheit. Erreicht der Leiter Sicherheit, so wird auch die Gruppe unter seinem Schutz wagen, frei und „frech“ zu fantasieren und sich einzubringen. Für einen lang erfahrenen Gruppenleiter werden sicher immer weniger Regeln nötig sein, er hat die Sicherheit und ein Gespür für die Situation. Er wird rasch im Augenblick entscheiden können, welchen Weg er gehen möchte, ob er den Referenten ermuntert, zu schweigen und nicht auf jede Bemerkung aus der Runde zu reagieren, zu antworten oder sich zu rechtfertigen. Er wird ihn entlasten, darauf aufmerksam machen, wenn er sich schwer tut damit, einmal zuzuhören. Vielleicht hat sein Engagement ja auch etwas mit der Arzt-Patienten-Beziehung zu tun. Der Balint-Gruppenleiter in Ausbildung, der die Routine noch nicht hat, muss viel leisten, viel beachten. Er hat eine eigene Hypothese zu der vorgestellten Beziehung, er hört die Beiträge der Gruppenteilnehmer, ergänzt und korrigiert seine Hypothese, verstärkt einzelne Aussagen, ohne zu manipulieren, hält den Gruppenprozess im Auge, ohne den Referenten und sein Anliegen dabei zu vergessen. Er oszilliert hin und her zwischen der Gefühlsebene, auf der er mitschwingt, und der Metaebene, auf der er analysiert und strukturiert. Je sicherer der Leiter wird, desto lockerer wird er die Regeln handhaben können. Und desto eher wird auch die Gruppe samt Referent dagegen verstoßen können, sich einmischen, die Zurückhaltung nicht wahren, Gefühle frei äußern.

Die Balint-Gruppenleitung gehört halt zu den Dingen, von denen Brecht sagt: „Es ist das Einfache, das schwer zu machen ist“.

Vielleicht trifft ja auch der Vergleich, den John Salinsky in einem Vortrag zur Balint-Gruppenleitung brachte: der Bratscher, der 4 Wochen lang am Dirigentenpult stand, zu seinem Bratscher-Kollegen ans Pult zurückkehrt, der ihn erstaunt fragt: „Where have you been all the time?“ („Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“). Soll der Balint-Gruppenleiter so unauffällig bleiben und von den Gruppenmitgliedern nicht bemerkt werden, um den Gruppenprozess nicht zu stören?

Wir freuen uns auf eine kontroverse Diskussion!

Dr. med. Bern Carrière



Weberkoppel 70

23568 Lübeck